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Von Herz zu Herz Rosemarie Gerst Eigentlich geht es überhaupt nicht um die äußeren Umstände, aber zum besseren Verständnis gehört ihre Erwähnung an diese Stelle. Lukas, der mit mir Heiratsabsichten hatte, lud mich zu Silvester nach Mittenwald ein, zum Feiern und Ski laufen. Am späteren Abend besuchten wir ein gutes Lokal im Zentrum Mittenwalds, wo Tanz und Musik geboten wurde. Freunde von Lukas, ein Musikerehepaar, war auch dabei. Wir setzten uns an einen größeren Tisch, an dem später noch ein Ehepaar aus Flensburg Platz nahm. Der Mann war Architekt wie Lukas. Die Zeit verging mit Reden und Tanzen. Alle unterhielten sich gut, es wurde viel gelacht und auch dem Alkohol zugesprochen. Ich aber, ich fühlte mich allein und nicht recht zugehörig. Um Mitternacht wünschte man sich gegenseitig ein „Gutes Neues Jahr“, Küsschen rechts, Küsschen links, halt das Übliche. Im Raum war es etwas leer geworden. Einige Leute waren schon gegangen oder tanzten im Erdgeschoss, wie Lukas und die Frau des Flensburger Architekten. Ich sah mich im Raum um, der Trubel war sanfter Musik gewichen und ganz unerwartet setzte sich der Flensburger Architekt zu mir. Für mich war er ein wildfremder Mann. Er wirkte intelligent und kultiviert. Nichts Eitles oder Geziertes war an ihm. „Gefällt es ihnen nicht? Sie haben so gequälte Augen“, sprach er mich an. Das war bemerkenswert, weil es zumindest ein Zeichen seiner Aufmerksamkeit und seines feinen Gefühls war. Ich antwortete auf seine Frage: „Die Menschen gefallen mir nicht.“ Darauf entgegnete er entschieden: „Ich liebe sie und Sie gefallen mir sehr.“ Mit einem seltsam tiefen Blick, wie ich ihn noch nie erlebt hatte, sah er mir in die Augen. Es war fast ein wenig unheimlich, aber zugleich auch wohltuend. Konzentration und Zuneigung lag in diesem Blick. Einmal wandte ich meinen Blick ab, worauf er mich bat: „Bleiben Sie doch da, sehen Sie nicht weg.“ Für einen kurzen Augenblick bemerkte ich auf dem Grund seiner Augen ein Aufleuchten und etwas wie Innigkeit und Lauterkeit. Mein Gefühl und mein spontaner Eindruck waren sofort seinem allerpersönlichsten Innenleben begegnet zu sein. Diese Wahrnehmung war tief berührend und geheimnisvoll. Eine unsagbare Leichtigkeit und eine tiefe Zuneigung zu ihm durchströmte mich. Ich konnte ihm ganz vertrauen und ihn vollkommen bejahen. Deshalb war diese Begegnung so schön, einfach nicht von dieser Welt, wie ich fand. Ich glaube, dass er ebenso glücklich war wie ich. Dann gingen wir nach unten um zu tanzen. Kein Kuss, keine Umarmung, weder Scherz noch Getändel, fand statt. Es war ein Fest der Gefühle auf einer höheren Ebene, kein einfaches Mitnehmen, was der Zufall so bot. Aus ihm und mir war ein Wir geworden, eine Einheit, distanziert von den Anderen. Einmal nahm er beim Tanzen meine Hand: „Sie haben wunderschöne Hände! Der Mondstein am Ring Ihrer Hand entspricht genau Ihren Augen. Dieses wundervolle Blau, schwebend in dieser Helligkeit, einfach erstaunlich. Mir ist so wohl in Ihrer Nähe.“ Ich bestand nur noch aus einem tiefen Gefühl für diesen Menschen. Alle Realität war mir abhanden gekommen. Den Rest des Abends, über zwei Stunden, blieb er immer bei mir, um nur mit mir zu tanzen. Für mich war es der glücklichste Tanz meines Lebens. Später sagte er mit leisem Bedauern: „Ich glaube, Lukas drängt zum Aufbruch.“ Ich lehnte meine Stirn an seine Schulter und flüsterte: „Wer ist Lukas?“ In meinem Rücken spürte ich den feinen Druck seiner Hand, er hatte mich verstanden. Es war spät geworden. Das Orchester packte die Instrumente ein und wir standen zuletzt ganz alleine auf der Tanzfläche. Fast alle Leute waren fort. Nur schwer konnten wir uns voneinander lösen. Dann musste alles ziemlich rasch gehen. Lukas verabredete sich mit ihm und seiner Frau für den nächsten Vormittag bei der Skisprung-Schanze. Die Verabredung platze jedoch, denn am anderen Morgen wollte Lukas lieber schlafen. Später fuhr er mit mir zum Stadion und da sah ich, wie eben ein Auto mit Flensburger Kennzeichen wegfuhr. Dieses Aus für immer war schmerzlich. Wie hätte es weitergehen sollen? Er war verheiratet und wohnte so weit weg, am äußersten Ende Deutschlands. Jeder für sich hatte seinen Weg zu gehen. Der Abschiedsschmerz war vielleicht der Tribut, den wir zu entrichten hatten, und doch gab mir dieses unbegreifliche Geschehen Zuversicht für die Zukunft. Lukas bemerkte Tage später: „Du bist sehr verändert seit Silvester.“ Ich antwortete: „Du meinst durch Fabian. Ich kenne nicht einmal seinen Nachnamen und ich werde ihn nie wieder sehen, aber dich kann ich nicht heiraten, es tut mir leid, Lukas.“ Ungläubig schaute er mich an: „Das ist nicht dein Ernst!“ „Doch, Lukas, und ich erkläre es dir so: Wenn ich an einem See stehen würde und du wärst am jenseitigen Ufer, würde ich vielleicht ein Boot nehmen, um zu dir zu kommen, wäre aber Fabian am gegenüberliegenden Ufer, könnte ich übers Wasser laufen, um bei ihm zu sein, das weiß ich.“ Langsam und bedächtig packte Lukas seine Sachen in eine Tasche, so, als wollte er mir noch die Gelegenheit geben, alles zu widerrufen, doch dann ging er wortlos zur Tür.