Das Haus der verlorenen Kinder: Roman
Nimmt man einer Mutter ihr Kind … Norwegen, 1941: In dem kriegsgebeutelten Land verlieben sich Lisbet und ihre Freundin Oda in die falschen Männer – in deutsche Soldaten. Ihre verbotene Liebe fordert einen hohen Preis, und die beiden jungen Frauen verlieren alles, was ihnen lieb ist. Ausgerechnet bei den deutschen Besatzern scheinen sie Hilfe zu finden, doch dann wird Lisbet von ihrer kleinen Tochter getrennt. Erst lange Zeit später findet sich ihre Spur – in Deutschland. Eine dramatische Geschichte um zwei junge Frauen in Norwegen im Zweiten Weltkrieg, deren Schicksal bis in die Gegenwart reicht.
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Das Haus der verlorenen Kinder: Roman
Nimmt man einer Mutter ihr Kind … Norwegen, 1941: In dem kriegsgebeutelten Land verlieben sich Lisbet und ihre Freundin Oda in die falschen Männer – in deutsche Soldaten. Ihre verbotene Liebe fordert einen hohen Preis, und die beiden jungen Frauen verlieren alles, was ihnen lieb ist. Ausgerechnet bei den deutschen Besatzern scheinen sie Hilfe zu finden, doch dann wird Lisbet von ihrer kleinen Tochter getrennt. Erst lange Zeit später findet sich ihre Spur – in Deutschland. Eine dramatische Geschichte um zwei junge Frauen in Norwegen im Zweiten Weltkrieg, deren Schicksal bis in die Gegenwart reicht.
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Das Haus der verlorenen Kinder: Roman

Das Haus der verlorenen Kinder: Roman

by Heike Molitor
Das Haus der verlorenen Kinder: Roman

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by Heike Molitor

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Overview

Nimmt man einer Mutter ihr Kind … Norwegen, 1941: In dem kriegsgebeutelten Land verlieben sich Lisbet und ihre Freundin Oda in die falschen Männer – in deutsche Soldaten. Ihre verbotene Liebe fordert einen hohen Preis, und die beiden jungen Frauen verlieren alles, was ihnen lieb ist. Ausgerechnet bei den deutschen Besatzern scheinen sie Hilfe zu finden, doch dann wird Lisbet von ihrer kleinen Tochter getrennt. Erst lange Zeit später findet sich ihre Spur – in Deutschland. Eine dramatische Geschichte um zwei junge Frauen in Norwegen im Zweiten Weltkrieg, deren Schicksal bis in die Gegenwart reicht.

Product Details

ISBN-13: 9783841210852
Publisher: Aufbau Digital
Publication date: 04/18/2016
Sold by: Libreka GmbH
Format: eBook
Pages: 528
Sales rank: 1,280,424
File size: 2 MB
Language: German

About the Author

Hinter Linda Winterberg verbirgt sich Nicole Steyer, eine erfolgreiche Autorin historischer Romane. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Taunus und begann schon im Kindesalter erste Geschichten zu schreiben, ganz besonders zu Weihnachten, was sie schon immer liebte. Bei atb liegen von ihr die Romane „Das Haus der verlorenen Kinder“ und „Solange die Hoffnung uns gehört“ vor.

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Das Haus Der Verlorenen Kinder


By Linda Winterberg

Aufbau-Verlag

Copyright © 2016 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
All rights reserved.
ISBN: 978-3-8412-1085-2


CHAPTER 1

Wiesbaden, Deutschland, Oktober 2005

Marie schritt am Spielfeldrand des Schachbrettes entlang und fixierte nachdenklich die lebensgroßen Figuren. Sie ahnte, dass sie verloren hatte. Sie holte tief Luft, dann schaute sie zu ihrer Gegnerin, die auf der Parkbank gegenüber saß. »Hat es überhaupt noch Sinn weiterzumachen?«

Betty schüttelte den Kopf. »Du kannst nur noch mit dem Turm ziehen, was dir aber nichts bringen wird, denn mit meinem nächsten Zug bist du schachmatt.«

»Und wenn ich den Bauern dorthin setze?« Marie trat auf das Spielfeld und rückte die Figur voran.

Bettys Blick war Antwort genug.

»Ich gebe auf.« Marie nahm die Hände in die Höhe. »Du hast schon wieder gewonnen.«

Betty erhob sich von der Parkbank, trat aufs Spielfeld, schob ihre Dame zwei Felder nach rechts und rief triumphierend: »Schachmatt!« Ein Grinsen um die Lippen, drehte sie sich zu Marie um. »Muss schließlich alles seine Richtigkeit haben.«

Marie, die nicht gern verlor, zwang sich zu einem Lächeln und seufzte: »Das ist kein freiwilliges soziales Jahr, das ist Folter. Wenn ich gewusst hätte, dass alte Leute so anstrengend sind, ich hätte mir eine andere Beschäftigung gesucht.«

»Alte Leute?« Betty sah um sich. »Wo sind hier alte Leute?« Marie grinste. Betty war vierundachtzig, was sie nicht daran hinderte, ihre ganz eigene Art der Eitelkeit zu pflegen. Sie hatte sich damit abgefunden, ästhetisch zweifelhafte orthopädische Schuhe tragen zu müssen, doch ihre restliche Kleidung war modern und von ausgesuchter Qualität. Altbackene Strickwesten und formlose Pullover suchte man bei ihr vergebens. Am liebsten trug sie Blusen, enggeschnittene Rollis und schwarze Leggings aus diesem neumodischen Zeugs, das sie Elasthan nannten. Hätte es früher schon geben müssen, hatte sie einmal zu Marie gesagt, dann hätten die Röcke nicht ständig gekniffen. Ihr Haar war silbergrau – Färben wäre ihr nicht in den Sinn gekommen. Dafür umgab sie ein leichter Hauch von Chanel Nº5, was Marie wie ein Klischee vorkam. Sie selbst benutzte nur praktisches, nach Vanille duftendes Deo aus der Drogerie. Betty hielt nichts von praktischen Deos, genauso wie sie nichts von orthopädischen Schuhen, dem Altersheim oder ihrem Zimmernachbarn Karl-Theodor hielt.

»Spielen wir noch eine Runde?«, fragte die alte Dame.

Marie blickte auf die Uhr. »Ich fürchte, wir müssen zurück.«

»Nicht doch, jetzt schon?« Betty verzog enttäuscht das Gesicht.

»Bald wird es dunkel, und um sechs gibt es Abendbrot«, sagte Marie. Betty antwortete nicht. Sie setzte sich wieder auf ihre Parkbank, verschränkte die Arme vor der Brust und hielt ihre Nase in die herbstliche Abendsonne. Marie ließ sie gewähren. Sie kannte Bettys Launen. Trotzdem hatte sie die alte Dame ins Herz geschlossen. Sie war anders als die anderen Bewohner des Heimes, die sich die Zeit mit Tratschen, Fernsehen und Brettspielen vertrieben. Ihre gemeinsame Leidenschaft fürs Schachspielen hatten sie nur durch Zufall entdeckt. Marie hatte Else Bauer im Aufenthaltsraum einen Tipp gegeben, durch den die alte Dame ihren Gegner, den alten Heinz-Ulrich, geschlagen hatte. Seitdem hatte sich Betty hartnäckig an ihre Fersen geheftet, denn es gab nur wenige gute Schachspieler im Heim; glaubte sie Bettys Worten, gar keine.

Im Frühjahr hatte Marie ihre Stelle im Haus Sonnenschein angetreten. Kurz davor war sie von Berlin nach Wiesbaden gezogen. Die Idee mit dem freiwilligen sozialen Jahr war ihr eher zufällig gekommen. Das BWL-Studium war nichts für sie gewesen, genauso wenig wie die Ausbildung zur Bankkauffrau. Mit ihrer Launenhaftigkeit bei der Arbeitssuche hatte sie ihren Betreuer beim Jugendamt, Herrn Paul, zur Weißglut getrieben. Einen aalglatten Burschen, der mit seinen braunen Cordanzügen und der schwarzen Hornbrille wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit wirkte, ebenso wie das rote Backsteingebäude, in dem das Jugendamt untergebracht war. Zuletzt hatte sie dieses Gebäude kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag betreten. Herr Paul hatte ihr an diesem Tag persönliche Dinge ihrer Eltern übergeben, die bisher im Jugendamt aufbewahrt worden waren. Darunter eine alte Tasche ihrer Mutter, die mit allerlei Krimskrams gefüllt war. Erst vor einer Weile hatte sie in dieser Tasche zufällig die Fotografie eines alten Hauses in einer Seitentasche entdeckt, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Haus Sonnenschein, 1945 war auf der Rückseite zu lesen. Sie stellte Nachforschungen im Internet an und fand das Haus. Es stand in Wiesbaden und war ein Altersheim. Weshalb ihre Mutter diese Fotografie aufbewahrt hatte, erschloss sich Marie nicht. Zufällig wurden in dem Heim junge Menschen für ein freiwilliges soziales Jahr gesucht, und sie hatte sich spontan beworben und war angenommen worden. Vielleicht war die Fotografie ein Wink des Schicksals oder einfach nur Zufall, wer wusste das schon. Es hatte sich gut angefühlt, Berlin hinter sich zu lassen, eine Stadt, die ihr stets fremd geblieben war.

In Wiesbaden angekommen, hatte sie sich schnell eingelebt. Die Stadt am Rhein war gemütlich, dabei mondän und überschaubar. Sie bewohnte ein kleines Zimmer in einer WG, die in einem der für diese Gegend typischen Stadthäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert lag. Ihre beiden Mitbewohnerinnen waren grundverschieden. Die blonde Julia war eher eine Nachteule – vor neun Uhr morgens nicht ansprechbar, unordentlich und hektisch. Kerstin hingegen war ruhig und besonnen. Mit ihrem kurzgeschnittenen braunen Haar wirkte sie unscheinbar. Sie studierte Germanistik und Philosophie, und in ihrem Zimmer gab es unendlich viele Bücher. In den Tagen nach ihrer Ankunft hatte Kerstin ihr die Stadt gezeigt. Die prachtvolle Wilhelmstraße, den Neroberg mit seiner kleinen Bergbahn, das Biebricher Schloss, das direkt am Rheinufer lag. Ganz besonders beeindruckte Marie das im Stil der Neorenaissance erbaute Staatstheater, das inmitten altehrwürdiger Villen und Parkanlagen die vergangenen Zeiten Wiesbadens aufleben ließ. Hier hatte sie auch das Freiluftschachspiel entdeckt, im sogenannten Warmen Damm, wie die Wiesbadener den nahe dem Theater liegenden Park nannten.

Betty war ganz verzückt gewesen, als Marie es ihr zum ersten Mal gezeigt hatte, und inzwischen war es zu einer schönen Gewohnheit geworden, dass sie einmal in der Woche hierherkamen.

Marie wusste, dass Betty nicht gern ins Heim zurückging, das sie abfällig als »die Bude« bezeichnete. Viele Freunde hatte die alte, oft eigenwillige Dame dort nicht. Die meiste Zeit verbrachte sie in ihrem Zimmer. Nur Karl-Theodor besuchte sie ab und an. Der alte Herr mit den buschigen grauen Augenbrauen und dem freundlichen Lächeln war eine hartnäckige Frohnatur und ließ sich nicht so schnell vertreiben, was Marie gefiel. Betty konnte durchaus Gesellschaft vertragen, auch wenn sie selbst das anders sah.

Marie räumte die Schachfiguren zurück in die Kisten, setzte sich neben die alte Dame auf die Bank und blickte zu dem großen Weiher in der Mitte des Parks. Die Äste einer Trauerweide trieben im Wasser, auf dem Enten, einige Blesshühner und zwei Schwäne schwammen. Der Herbst hatte die Blätter der Bäume bunt gefärbt, durch die sanfte Sonnenstrahlen ihre Muster auf die Wege zeichneten. Der Duft von trockenem Laub hing in der milden Luft. Auf der nahen Wiese lag eine Gruppe junger Mädchen, die sich kichernd unterhielten. Ein Jogger lief an ihnen vorüber und grüßte knapp. Fahrradfahrer fuhren über die bekiesten Wege. Ein kleines Mädchen, kaum zwei Jahre alt, lief quietschend zum Wasser, verfolgt von seiner Mutter. Kurz vorm Ufer erwischte sie die Kleine, nahm sie lachend in den Arm und wirbelte sie durch die Luft. Marie beobachtete die beiden wehmütig. Als ihre Welt zusammenbrach, war sie nicht viel älter als die Kleine gewesen. Es passierte an einem milden Herbsttag wie heute. Sie hatte auf dem Rücksitz des Wagens gesessen, in dem ihre Eltern den Tod gefunden hatten. Ob ihre Mutter sie jemals so durch die Luft gewirbelt hatte, oder ihr Vater? Sie wusste es nicht. Ihre Gesichter kannte sie nur von Fotos, und ihre Gegenwart war eine vage Erinnerung aus einer unerreichbaren, Geborgenheit versprechenden Welt.

»Wie hieß noch gleich dieses nette Café, in dem wir letztens waren?«, riss Betty sie aus ihren Gedanken. »Da könnten wir noch auf einen Sprung vorbeischauen. Die backen leckere Torten.«

»Maldaner, das Café heißt Maldaner«, erwiderte Marie abwesend. Die Frau und das Mädchen hatten begonnen die Enten zu füttern.

»Richtig, das war der Name. Lass uns dorthin gehen. Das Abendbrot im Heim ist immer derselbe Einheitsbrei – Käse, Wurst, ein wenig Brot, an guten Tagen eine Tomate oder Gurke. Phantasie ist für diese Küche ein Fremdwort.« Die alte Dame stand entschlossen auf.

»Torte ist allerdings auch kein besonders gutes Abendessen«, wandte Marie ein.

»Ja, aber sie macht glücklich. Und ein bisschen Glück ist gut für die Seele.« Betty zwinkerte Marie aufmunternd zu. »Ist nicht immer leicht im Leben. Es hat keinen Sinn, die dunklen Wolken zuzulassen, besonders nicht, wenn die Sonne so schön scheint.«

Marie lächelte. Die alte Dame mochte stur sein, manchmal vielleicht auch wunderlich, doch sie hatte feine Antennen für die Menschen um sie herum. Oftmals kam es Marie so vor, als wüsste Betty alles über sie, obwohl sie ihr nie viel von sich erzählt hatte.

»Also gut. Wenn Torte glücklich macht, ist das natürlich etwas anderes«, lenkte Marie ein.

Die beiden schlenderten Richtung Wilhelmstraße, vorbei an dem altehrwürdigen Nassauer Hof, in dem schon Kaiser Wilhelm II., in späteren Jahren John F. Kennedy oder Audrey Hepburn residiert hatten.

Auch das Café Maldaner, das sie nun betraten, entführte einen mit seinem Charme eines Wiener Caféhauses in alte Zeiten. Eine hölzerne Drehtür, stuckverzierte Decken und Wände, gemütliche Sofas und eine breite, reich gefüllte Kuchentheke sorgten für eine gemütliche Atmosphäre.

Sie suchten sich einen Platz am Fenster und gaben ihre Bestellung auf. Marie entschied sich für ein Stück Obstkuchen und einen koffeinfreien Cappuccino, während sich Betty ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte und eine heiße Schokolade gönnte.

»In Berlin sehen Cafés anders aus«, sagte Marie.

»In Norwegen auch«, erwiderte Betty trocken.

»Norwegen?« Marie zog eine Augenbraue in die Höhe.

»Ich hab mal in einem gearbeitet, in Kristiansand – ist eine Ewigkeit her. Fühlt sich an, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.« Bettys Stimme klang wehmütig.

»So fühlt sich Berlin für mich auch an«, erwiderte Marie. Die Bedienung brachte die Bestellung. Betty deutete auf Maries Törtchen.

»Dein mickriger Kuchen sieht nicht so aus, als würde er glücklich machen.«

»Das kann schon sein«, bestätigte Marie lachend. »Ich muss auf meine Linie achten.«

»Klar, und morgen kommt der Weihnachtsmann. Von der Statur her sind wir uns sehr ähnlich. Klein, zierlich, aber zäh. Du kannst essen, was du willst, Schätzchen, es bleibt nichts hängen. Das verspreche ich dir.«

Marie lächelte. Sie probierte von ihrem kümmerlichen Törtchen.

»Wieso warst du in Norwegen?«

»Ich bin dort geboren«, antwortete Betty und winkte ab. »Ist lange her. In den Fünfzigern bin ich nach Deutschland gekommen, habe geheiratet und bin geblieben. Und was war bei dir in Berlin?« Sie schaute Marie fragend an.

»Ist noch nicht lange her«, gab Marie zurück und nippte an ihrem Cappuccino. »War nicht so berauschend dort.«

Betty trank von ihrer Schokolade und bemerkte trocken: »Du willst nicht darüber reden.«

»Willst du über Norwegen reden?«, konterte Marie.

»Ist wie Schach spielen, sich mit dir zu unterhalten«, gab Betty zurück. »Dem Gegner keine Blöße geben.«

Marie zog eine Grimasse, dann gab sie sich einen Ruck. »Ich war zwei Jahre alt, als meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind.« Betty ließ ihre Gabel sinken. »Insgesamt waren es vier Pflegefamilien, drei Heimaufenthalte und immer derselbe miese Betreuer im Jugendamt, den ich Gott sei Dank nun endlich los bin.«

»Immerhin etwas«, bemerkte Betty. Eine Weile schwiegen beide. Marie leerte ihren Cappuccino in einem Zug. Als sie die Tasse auf den Tisch zurückstellte, legte Betty die Hand auf ihren Arm und sagte: »Ich habe den Schmerz in deinen Augen erkannt – diesen Kummer, der einen nie loslässt.«

Marie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Bettys Stimme klang auf einmal anders – zerbrechlicher als sonst. In ihren Augen schienen Tränen zu schimmern. Eine Bedienung trat näher und unterbrach die beiden. Betty zog ihre Hand fort.

»Wir schließen gleich, dürfte ich bitte kassieren?«, fragte die junge Frau schüchtern.

»Das geht auf mich«, bestimmte Betty, noch bevor Marie reagieren konnte. Sie ließ sie gewähren, denn Widerworte hätte Betty ohnehin nicht zugelassen, das wusste Marie. Betty gab ein großzügiges Trinkgeld und zwinkerte dem jungen Mädchen lächelnd zu, was diese mit einem höflichen Dankeschön und roten Wangen quittierte.

Kurz darauf verließen sie das Café und liefen zur nahen Bushaltestelle. Die Sonne war bereits untergegangen, doch der Himmel erstrahlte noch in leuchtendem Rot. Betty setzte sich auf den einzigen freien Sitzplatz an der Haltestelle. Sie nahm ihre Tasche auf den Schoß und schaute in den Himmel, wo ein Schwarm Kraniche laut rufend Richtung Süden zog. »Es gab einmal eine Zeit, da konnte ich mir ein Leben ohne Sicht aufs Meer nicht vorstellen«, murmelte sie. Erneut klang ihre Stimme zerbrechlich. »Oder einen Winter ohne Schnee. Das sind die beiden Dinge, die ich am meisten an Norwegen vermisse, das Meer und den Schnee. Richtigen Schnee, nicht die Matschbrühe, die hier alle drei heilige Zeiten vom Himmel fällt und gleich wieder davonschwimmt. Schnee, der wie Watte aussieht, monatelang liegen bleibt und ganz anders riecht, als das von Streusalz zerfressene Zeug.« Sie seufzte. Der Bus kam, und die beiden stiegen ein.

»Und du bist nie wieder dort gewesen, am Meer, meine ich?«, hakte Marie nach.

»Nein, schon lange nicht mehr. Nur in meinen Träumen sehe ich unser Dorf, die weißen Häuser, den Schärengarten und das Meer.« Bettys Blick wanderte nach draußen, und sie fügte leise hinzu: »Wir durften uns nicht lieben. Nicht wiedersehen, einander nicht finden, in einer Welt, die ganz und gar aus den Fugen geraten war. Und das alles nur, weil sie über den Hügel gekommen sind.«

»Wer ist über welchen Hügel gekommen?«, wollte Marie wissen.

Betty wandte den Kopf zu ihr. Unverständnis lag in ihrem Blick.

»Ich habe dir doch gesagt, du sollst eine anständige Torte essen. Sieh mich an. Ich bin jetzt glücklich.« Die Verletzlichkeit in ihrer Stimme war mit einem Schlag verschwunden. Marie hakte nicht weiter nach. Wenn Betty so weit war, würde sie ihr den Rest der Geschichte erzählen, das spürte sie.

Der Bus hielt, und die beiden stiegen aus. Am Eingang zum Altersheim stand Karl-Theodor und grüßte freundlich: »Guten Abend, die Damen. Sie wurden beim Abendessen vermisst. Es war heute ausgesprochen köstlich.«

»Das glaube ich aufs Wort«, antwortete Betty mit dem altbekannten trockenen Unterton in ihrer Stimme.

Sie gingen an dem alten Mann vorbei zum Fahrstuhl, der sie in den dritten Stock beförderte, in dem es wie immer muffig roch.

»Immer dieser Gestank«, moserte Betty, als sie auf den Flur traten. »Das liegt daran, dass sie nie das Fenster aufmachen. Irgendwann ersticken wir noch in dem Mief von billigem Essen und Bettpfannen.«

Marie brachte die alte Frau zu ihrem Zimmer.

»Nächste Woche wieder Schach?«, vergewisserte sich Betty. »Aber sicher doch«, erwiderte Marie und zwang sich zu einem Lächeln. »Und diesmal werde ich gewinnen.«

»Das glaubst auch nur du«, konterte die alte Dame augenzwinkernd und verschwand in ihrem Zimmer. Marie blieb noch eine Weile auf dem Flur stehen. Plötzlich kam sie sich ganz verloren vor. Sie verstand selbst nicht genau, warum, aber sie hätte gern noch mehr von Norwegen, den weißen Häusern am Meer und dem so anders aussehenden Schnee gehört. Der Aufzug öffnete sich erneut und spuckte Karl-Theodor aus. Mit hängenden Schultern ging er an Marie vorüber zu seinem Zimmer. Die Fröhlichkeit von eben war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Ach, guten Abend, mein Fräulein«, grüßte er höflich. »Sie sind noch hier?«

»Ich gehe jetzt.« Er nickte. Marie deutete auf Bettys Tür. »Ist nicht immer leicht mit ihr.«

»Ist, wie es ist.« Er winkte ab. »Sie hat auch gute Tage. Vielleicht ja morgen wieder.« Seine Stimme klang hoffnungsvoll.

»Bestimmt. Sie spielt gern Schach. Wussten Sie das?« Marie bemühte sich um einen aufmunternden Tonfall.

»Wirklich?«, fragte er verwundert.

Marie nickte.

»Sie ist sogar sehr gut darin.«

»Das glaube ich aufs Wort«, gab er zurück und öffnete seine Tür.

Marie ging zum Aufzug. Sicher würde er morgen erneut sein Glück bei Betty versuchen, vielleicht dieses Mal mit mehr Erfolg, denn wenn es um ein gutes Schachspiel ging, würde Betty kaum nein sagen können.


(Continues...)

Excerpted from Das Haus Der Verlorenen Kinder by Linda Winterberg. Copyright © 2016 Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin. Excerpted by permission of Aufbau-Verlag.
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