Die Wasserkinder: Ein Feenmärchen für ein kleines Landkind
334Die Wasserkinder: Ein Feenmärchen für ein kleines Landkind
334eBook
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Overview
Product Details
ISBN-13: | 9783944309170 |
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Publisher: | mach-mir-ein-ebook.de |
Publication date: | 02/24/2013 |
Sold by: | Libreka GmbH |
Format: | eBook |
Pages: | 334 |
File size: | 13 MB |
Note: | This product may take a few minutes to download. |
Age Range: | 12 - 18 Years |
Language: | German |
Read an Excerpt
ERSTES KAPITEL Es war einmal ein kleiner Schornsteinfeger mit Namen Thomas, aber man nannte ihn kurzweg Tom. Das ist ein kurzer Name und du hast ihn vielleicht schon gehört; jedenfalls wird es dir keine Mühe bereiten, ihn zu behalten. Tom lebte in einer großen Stadt im nördlichen Teil von England, wo es genug Kamine zum Fegen und genug Geld für ihn zu verdienen gab und wo folglich sein Meister auch viel Geld ausgeben konnte. Tom konnte weder lesen, noch schreiben, was ihm übrigens keine Sorgen machte; auch wusch er sich niemals, weil es kein Wasser in dem Hof gab, wo er wohnte. Er war niemals angehalten worden, ein Gebet herzusagen. Er hatte niemals etwas von Gott oder Christus gehört, ausgenommen in Ausdrücken, die noch nicht dein Ohr erreichten, und es wäre gut gewesen, wenn er sie nie vernommen hätte. Den halben Tag weinte er, und während der anderen Hälfte lachte er. Er weinte, wenn er die Schornsteine hinaufklimmen musste, wobei er sich seine armen Knie und Ellenbogen wund rieb, und wenn ihm Ruß in die Augen fiel, was täglich passierte, und wenn ihn sein Meister prügelte, und wenn er nicht satt zu Essen hatte, was sich gleichfalls jeden Tag in der Woche ereignete. Aber er lachte während der zweiten Hälfte des Tages, wenn er mit anderen Buben um kleine Kupfermünzen würfelte oder wenn er 'Hüpf-Frosch' über die Pfosten spielte oder wenn er den vorübertrabenden Pferden Steine zwischen die Beine warf, was besondere Kurzweil bereitete, besonders da sich in der Nähe eine Mauer zum Verbergen befand. Was das Fegen, den Hunger und die Schläge betraf, so nahm er das alles als der Welt Lauf an, etwa wie den Regen, den Schnee und den Donner; er wandte jenen Unannehmlichkeiten tapfer den Nacken zu, bis sie vorbei waren, wie es auch sein alter Esel in einem Hagelwetter tat; er schüttelte sich einmal und war vergnügter denn je. Tom dachte an die kommende schöne Zeit, wenn er ein Mann und Meister sein, im Bierhaus sitzen würde, mit einem gefüllten Seidel[1] vor sich und der langen Pfeife im Mund, und wenn er um Silbermünzen Karten spielen und feine Kleider aus Samt tragen könnte; wenn er sich einen weißen Bullenbeißer mit einem grauen Ohr halten und seine Jungen in der Rocktasche mit sich herumtragen dürfte, genau so wie ein erwachsener Mensch. Er wollte dann auch Lehrjungen haben, einen, zwei, drei, wenn möglich. Er dachte sich, wie er sie ins Bockshorn jagen, sie stoßen und schlagen wollte, gerade so, wie es sein Meister mit ihm tat; und wie er sie zwingen würde, die Rußsäcke nach Hause zu schleppen, während er auf seinem Esel vor ihnen herritt, mit einer Pfeife im Mund und einer Blume im Knopfloch, wie ein König an der Spitze seines Heeres. Ja, diese guten Zeiten hatten noch zu kommen; aber wenn ihm der Meister einen Schluck Bier übrig ließ, dann war Tom der munterste Knabe in der ganzen Stadt. Eines Tages kam ein sauber gekleideter, kleiner Stallknecht in den Hof geritten, wo Tom wohnte. Letzterer hatte sich gerade hinter einer Mauer versteckt, um dem Pferd einen halben Backstein zwischen die Beine zu werfen. Wie es in jener Gegend Sitte ist, gilt es, Fremde zu begrüßen; aber der Stallknecht hatte ihn bemerkt und fragte, ob er wisse, wo Herr Schmutzel, der Schornsteinfeger, wohne. Herr Schmutzel aber war Toms eigener Meister, und dieser verstand sich aufs Geschäft, er zeigte sich stets höflich den Kunden gegenüber, und so legte er den halben Backstein wieder ruhig hinter die Mauer und eilte in den Hof, um die Aufträge entgegenzunehmen. Herr Schmutzel sollte auf den Landsitz des Sir John Harthover kommen, weil sein Schornsteinfeger ins Gefängnis geraten sei und die Kamine gefegt werden müssten. Nachdem der Stallknecht das gesagt hatte, ritt er weg und lies Tom keine Zeit zu fragen, warum der Schornsteinfeger im Gefängnis brumme; denn dafür interessierte er sich lebhaft, weil er selber ein- oder zweimal gesessen hatte. Überdies sah der Stallknecht sehr nett und sauber aus in seinen hellgrauen Gamaschen, ebensolcher Jacke und Reithosen, in seiner schneeweißen Halsbinde mit einer schönen Vorstecknadel und mit seinem frischen, runden Gesicht, so dass sich Tom beleidigt und angeekelt fühlte über sein eigenes Aussehen, ihn für einen hochmütigen Kerl hielt, der sich in die Brust warf, weil er schöne Kleider trug, die aber andere Leute bezahlten. Tom begab sich hinter die Mauer, um doch noch den halben Backstein zu holen; indessen führte er sein Vorhaben nicht aus, weil er sich erinnerte, dass der Stallknecht in Geschäftsangelegenheiten gekommen war und, wie die Sachen standen, sich gewissermaßen unter dem Schutz einer Parlamentärflagge befand. Sein Meister war so sehr über den neuen Kunden erfreut, dass er vor allem Tom mit einem Stoß zu Boden warf und dann an jenem Abend mehr Bier trank, als er gewöhnlich an zweien zu sich zu nehmen pflegte, um sicher zu sein, recht früh am nächsten Morgen aufzustehen; denn je mehr Kopfweh ein Mensch empfindet, wenn er erwacht, desto größer ist das Verlangen aufzustehen und frische Luft zu schöpfen. Als er dann am nächsten Morgen um vier Uhr aufstand, warf er Tom aufs neue mit einem Stoß zu Boden, um ihn zu lehren – wie früher die Knaben anständiger und gebildeter Familien in öffentlichen Schulen gelehrt wurden –, dass er an diesem Tag ein extra guter Bursche sein müsse, da sie in ein sehr vornehmes Haus gehen würden, und dass es ihnen nur zum Vorteil gereichen könnte, wenn sie sich ihrer Arbeit zur Zufriedenheit entledigten. Tom dachte gleichfalls so, und er würde in der Tat sein Bestes in Bezug auf Arbeit und Betragen getan haben, wenn man ihn auch nicht zu Boden gestoßen hätte. Denn von allen Landsitzen der Welt war Harthovers Landsitz – den er niemals gesehen hatte – der wundervollste, und von allen Männern der Welt war Sir John – den er gesehen hatte, weil er ihn, Tom, zweimal ins Gefängnis geschickt hatte – der gefürchteste. Das Landgut der Familie Harthover war wirklich sehr bedeutend, selbst für die reiche nördliche Gegend, das Wohngebäude so umfangreich, dass während des Aufstandes gegen die Einführung von Maschinen, dessen sich Tom gerade noch zu erinnern vermochte, der Herzog von Wellington mit zehntausend Soldaten Unterkommen darin fand, wenigstens glaubte dies Tom. Der Park war voll von Rotwild, das Tom für Ungeheuer hielt, und von dem er glaubte, dass es die Gewohnheit hätte, Kinder zu verzehren; die umzäunte Abteilung des Wildparks umfasste verschiedene Meilen waldreichen Landes, in dem Herr Schmutzel zeitweise mit Bergleuten Wilderei beging, bei welcher Gelegenheit Tom dann Fasane zu Gesicht bekam und zu wissen begierig war, wonach sie eigentlich schmecken könnten; ferner befand sich in dem Park ein Teich mit Lachsen, in dem Schmutzel und seine Freunde gern gefischt hätten; aber dann würden sie genötigt gewesen sein, ins kalte Wasser zu waten, und daran fanden sie durchaus keinen Gefallen. Kurz gesagt, Harthover war ein großer Landsitz und Sir John ein alter Herr, vor dem selbst Herr Schmutzel Respekt empfand; denn er konnte ihn nicht nur ins Gefängnis schicken, wenn er es verdiente, was ein- oder zweimal in der Woche vorkam; Sir John besaß nicht nur alles Land rings umher, und zwar meilenweit; er war nicht nur ein munterer, ehrenwerter, vernünftiger Gutsbesitzer, der stets ein Rudel Jagdhunde hielt, und der für seine Nachbarn das tat, was er für Recht hielt, und darauf aus war, das für sich zu erlangen, was er ebenfalls für Recht erachtete, – sondern er wog auch, und das fiel noch schwerer ins Gewicht, volle fünfzehn stone[2] und maß, niemand wusste wie viel Zoll um seine Brust; er hätte in einem ehrlichen Streit selbst einen Herrn Schmutzel durchprügeln können, was nicht vielen Leuten in der Umgegend gelungen wäre, was sich aber, mein lieber kleiner Knabe, nicht für ihn gepasst hätte, wie viele Dinge nicht passend sind, die man entweder gern ausführt oder doch ausführen möchte. So grüßte ihn Herr Schmutzel, wenn er durch die Stadt ritt, und nannte ihn einen 'verständigen alten Kumpan' und seine jungen Damen 'schöne, langseitige Weibsbilder', Ausdrücke, die in der nördlichen Gegend als Komplimente anzusehen sind. Außerdem dachte er, dass er dadurch seine Wilddieberei an Sir Johns Fasanen wieder gut machte, woraus du erkennen magst, dass Herr Schmutzel in keiner richtig inspizierten, öffentlichen Staatsschule gewesen ist. Jetzt wage ich aber zu sagen, dass du niemals an einem hohen Sommertag morgens um drei Uhr aufgestanden bist. Manche Menschen machen sich so früh heraus, weil sie Lachs fangen wollen, andere, weil sie die Alpen zu ersteigen beabsichtigen, die bei weitem größere Zahl aber, weil sie, wie Tom, dazu gezwungen sind. Aber ich versichere dir, dass drei Uhr an einem hohen Sommermorgen die schönste Zeit ist während der vierundzwanzig Stunden des Tages und der dreihundertfünfundsechzig Tage des Jahres; warum aber nicht ein jeder früh aufsteht, vermag ich nicht zu sagen, ausgenommen, dass alle Langschläfer der Meinung sind, ihre Nerven und ihr körperliches Aussehen zu verderben, indem sie das bei Nacht tun, was sie auch noch den ganzen Tag tun möchten. Tom aber, anstatt um halb acht abends zu einem feinen Essen und um zehn auf einen Ball und von zwölf bis vier Uhr irgendwohin fischen zu gehen, begab sich um sieben Uhr, als sein Meister das Wirtshaus aufsuchte, zu Bett und schlief wie ein Sack; aus diesem Grund war er munter wie ein Hahn – der frühmorgens die Flügel schwingt und seine Hennen weckt – und gerade bereit, aufzustehen, wenn die feinen Herren und Damen im Begriff standen, sich schlafen zu legen. Er und sein Meister machten sich also auf den Weg; Schmutzel ritt auf seinem Esel voraus, Tom und seine Fegapparate marschierten hinterdrein. So ging es aus dem Hof die Straße hinauf, an den geschlossenen Fensterläden und dem schläfrigen, gähnenden Schutzmann vorüber. Die Dächer erschienen grau in dem Dämmerlicht des aufziehenden Tages. Sie kamen durch ein von Bergleuten bewohntes Dorf, wo noch alles geschlossen und ruhig war, und durch den Schlagbaum, der die Wanderer an das zu entrichtende Chausseegeld mahnt; dann befanden sie sich erst auf dem wirklichen Land und plagten sich auf dem schwarzen, staubigen, zwischen Schlackenmauern sich hinziehenden Weg, auf dem kein anderer Laut hörbar wurde, als das Ächzen und Schlagen der Grubenmaschine im nächsten Feld. Aber bald erweiterte sich derselbe und die Mauern, an denen Gras und Blumen sprossen, die von Tau benetzt waren, rückten weiter auseinander, und anstatt des Geseufzes und des Schlagens der Grubenmaschine hörten sie nun den Gesang der zum Himmel aufsteigenden Lerchen und das Locken des Torfvogels im Schilf, wie er die ganze Nacht gelockt hatte. Sonst war alles still; denn die alte Mutter Erde lag noch in tiefem Schlaf und sah, wie viele schöne Personen, so noch anmutiger aus, als im Wachen. Die großen Ulmen in den goldgrünen Wiesen schliefen fest bis in ihre Kronen hinauf und die Kühe schliefen fest unten an ihren Wurzeln. Noch mehr: Die wenigen Wolken, die an dem Himmelsbogen übrig geblieben waren, lagen ebenfalls in tiefem Schlaf, sie fühlten sich so müde, dass sie sich in langen weißen Flocken und Strichen auf die Erde legten, zwischen den Stämmen der Ulmen und auf den Spitzen der Erlen am Fluss sich ausruhten, auf die Sonne wartend, damit sie ihnen ihr Aufstehen zurufe und sie ihren Tagesgeschäften in der klaren, blauen Himmelshöhe nachgingen. So schritten sie immer weiter voran. Tom sah sehr verwundert um sich, denn noch niemals war er so weit auf das Land gekommen; er sehnte sich, über eine Wieseneinfriedung zu klettern und Butterblumen zu pflücken, und verlangte nach den Nestern der Vögel in den Hecken zu spähen. Indessen Herr Schmutzel war ein Mann, der seinen Geschäften oblag, und hatte keinen Sinn für dergleichen Zerstreuungen. Nach kurzer Wanderung begegneten sie einer armen Irin, die mit einem Bündel auf ihrem Rücken des Weges entlang trippelte. Sie trug einen dunkelroten Rock und ein graues Tuch auf dem Kopf, woraus du sicher entnehmen kannst, dass sie aus Galway kam, dem westlichen Teil ihres Vaterlandes. Sie hatte weder Strümpfe noch Schuhe an den Füßen und hinkte fort, als wäre sie müde und hätte wunde Sohlen. Sonst war sie eine sehr große, schöne Frau mit hellstrahlenden, grauen Augen, und dickes schwarzes Haar hing um ihre Wangen. Sie gefiel Herrn Schmutzel so gut, dass er sie ansprach, sobald er in ihre Nähe kam, und sagte: 'Das ist ein böser Weg für schöne Füße wie diese. Wollt Ihr aufsteigen, Frauensperson, und hinter mir aufsitzen?' Aber vielleicht bewunderte sie den Blick und die Stimme des Herrn Schmutzel nicht, denn sie antwortete rasch: 'Nein, ich danke Ihnen; ich wünsche lieber mit Ihrem kleinen Burschen hier zu gehen.' 'Sie mögen tun, wie es Ihnen gefällt', brummte Schmutzel und begann aufs neue zu rauchen. Nun ging sie neben Tom her, plauderte mit ihm und fragte, wo er wohne und was er gelernt habe, und noch viele andere Sachen, so dass Tom dachte, er wäre noch niemals einer so vertraulich sprechenden Frau begegnet. Schließlich fragte sie ihn, ob er auch bete und schien traurig zu sein als er zurückgab, dass er nicht beten gelernt habe. Hierauf fragte auch Tom, wo sie wohne, worauf sie sagte, dass es weit fort sei am Meer. Nun fragte er sie aus über das Meer, und sie erzählte ihm, wie es in Winternächten über die Felsen woge und brause, an schönen Sommertagen aber ruhig und glatt liege, so dass dann die Kinder darin badeten und am Ufer spielten, und noch manche andere Sachen erzählte sie ihm, bis Tom Sehnsucht empfand, das Meer zu sehen und gleichfalls in ihm zu baden und zu spielen. Südlich kamen sie zu einer Quelle am Fuß eines Hügels, aber nicht zu einer solchen, wie du sie hier siehst, die aus dem Morast kommt und durch weißen Kies fließt, zwischen Heidekraut und wohlriechendem Knabenkraut, und wo der rote Fliegenfänger seine Ernte hält; auch nicht zu einer solchen, wie du sie dort sehen kannst, unter der warmen Sandbank hervorsprudelnd, durch den mit Hecken umrahmten Hohlweg und durch Farnkraut rieselnd und den Sand auf ihrem Grund in kreiselnde Bewegung setzend, Tag und Nacht und das ganze Jahr hindurch; nicht zu einer solchen Quelle kamen sie, wohl aber zu einer richtigen Kalksteinquelle der nördlichen Gegend von England, ähnlich jenen Siziliens und Griechenlands, an welchen, wie sich die alten Heiden einbildeten, die Nymphen saßen und in den heißen Sommertagen sich kühlten, während die Schäfer dahinter durchs Gebüsch nach ihnen guckten. Aus einer niedrigen Felsenhöhle, am Fuß einer Kalksteinklippe, floss, sprudelte und murmelte die starke Quelle, und zwar so klar, dass du nicht sagen könntest, wo das Wasser aufhört und die Luft anfängt, zog dann des Weges entlang zwischen blauen Geranien, goldenen Dotterblumen, wilden Himbeeren und Vogelkirschen mit schneeweißen Blüten. Hier hielt Schmutzel an und sah sich um, und Tom sah sich ebenfalls um. Tom war begierig, ob irgendein Geschöpf in der dunklen Höhle lebe und nachts herauskomme, um in den Wiesen herumzuschweifen. Aber Schmutzel kümmerte sich durchaus nicht darum. Ohne ein Wort zu sagen, stieg er von seinem Esel, kletterte über die niedrige Wegmauer, kniete nieder und begann seinen hässlichen Kopf in die Quelle einzutauchen, und – machte sie sehr schmutzig und trübe. Tom pflückte Blumen ab, so schnell er nur konnte. Die Irin half und zeigte ihm, wie er sie zusammenbinden müsse, und beide machten einen sehr schönen Strauß. Aber als er bemerkte, dass sich Schmutzel immer noch wusch, stand er still, und zwar ganz erstaunt. Als er dann fertig war und seinen Kopf zu schütteln begann, damit er trockne, sagte er zu ihm: 'Aber Meister! Ich habe Sie das niemals zuvor tun sehen.' 'Du wirst es sehr wahrscheinlich auch nie wieder sehen. Ich tat es nicht aus Reinlichkeit, sondern der Kühlung wegen. Ich würde mich schämen, wenn ich mich alle Wochen oder vierzehn Tage zu waschen hätte, wie ein schwarz gewordener Grubenarbeiter.' 'Ich möchte auch meinen Kopf eintauchen', sagte der arme, kleine Tom. 'Es muss von derselben Wirkung sein, wie unter der Stadtpumpe, und hier ist kein Büttel, der einen fortjagt.' 'Du kommst weiter', sagte Schmutzel. 'Wozu hast du es nötig, dich zu waschen? Du hast doch die letzte Nacht keine acht halbe Maß Bier getrunken wie ich.' 'Das ist mir gleich', erwiderte der unartige Tom, lief zum Quellwasser und fing sein Gesicht zu waschen an. Schmutzel war sehr mürrisch, weil die Frau Toms Gesellschaft der seinen vorzog, deshalb überschüttete er ihn mit fürchterlichen Worten, zog ihn von den Knien auf und begann ihn zu prügeln. Aber Tom war an eine solche Behandlung gewöhnt, brachte nur seinen Kopf zwischen Herrn Schmutzels Beinen in Sicherheit und trat mit aller Macht gegen seine Schienbeine. 'Schämen Sie sich nicht vor sich selber, Thomas Schmutzel?' rief die Irin über die Mauer. Schmutzel sah sie an und war darüber bestürzt, dass sie seinen Namen kannte, aber alles, was er antwortete, war: 'Nein, und ich habe es bis jetzt noch niemals getan', dann fuhr er fort, Tom zu prügeln. 'Das ist leider die Wahrheit; denn wenn sie sich jemals vor sich selber geschämt hätten, so würden Sie schon längst hinüber nach Vendale gegangen sein.' 'Was wissen Sie über Vendale?' schrie Schmutzel und hörte auf, Tom zu schlagen. 'Ich kenne Vendale und Sie ebenfalls. Ich weiß zum Beispiel, was sich in der Nacht in Aldermire Copse zutrug; St. Martin werden es zwei Jahre.' 'Wissen Sie das?' schrie Schmutzel laut; hiermit lies er Tom los, sprang über die Mauer und stellte sich drohend vor die Frau. Tom dachte, dass er im Begriff stände, sie zu schlagen; aber dafür sah sie ihm zu streng und zu grimmig ins Gesicht. 'Ja, ich war dort', sagte die Irin ruhig. 'Sie sind Ihrem Dialekt nach keine Irin', erwiderte Schmutzel nach vielen groben Worten. 'Kümmern Sie sich nicht darum, wer ich bin. Ich sah was ich sah; und wenn Sie diesen Buben wieder schlagen, so kann ich sagen, was ich weiß.' Schmutzel schien vollständig eingeschüchtert zu sein und bestieg, ohne ein anderes Wort fallen zu lassen, seinen Esel. 'Halt!' sagte die Irin. 'Ich habe noch ein Wort für Euch; denn Ihr beide werdet mich wiedersehen, ehe alles vorüber ist. Diejenigen, die wünschen rein zu sein, werden rein sein, und jene, welche schmutzig bleiben wollen, werden schmutzig bleiben. Denkt daran.' Hierauf ging sie fort und verschwand durch eine Art Tor auf der Wiese. Schmutzel stand einen Augenblick still, wie ein Mensch, der betäubt wurde. Dann rannte er ihr nach und schrie laut: 'Komm nur zurück!' Aber als er die Wiese betrat, war die Frau nicht mehr zu sehen. Hatte sie sich irgendwo versteckt? Es fand sich dort keine Gelegenheit dazu. Aber Schmutzel schaute sich um und Tom ebenfalls, denn sie waren beide gleich verwirrt bei ihrem so plötzlichen Verschwinden. Indessen mochten sie spähen, wohin sie wollten, die Frau war nicht zu entdecken. Schmutzel kehrte bald zurück, und zwar stumm, wie ein Pfosten, war er doch ein wenig in Schrecken versetzt worden; er bestieg seinen Esel, stopfte sich eine Pfeife, begann zu rauchen und ließ Tom in Frieden. Sie hatten nun drei Meilen[3] und etwas darüber zurückgelegt, als sie vor Sir Johns Portal kamen. Es war eine mächtige Pforte mit großen eisernen Torflügeln und steinernen Pfosten, und auf einem jeden dieser Pfosten stand eine fürchterliche Fratzenfigur mit schrecklichen Zähnen, Hörnern und Schwänzen, die das Wappenschild bildete, das Sir Johns Vorfahren im Krieg 'der Rosen'[4] trugen; und sehr kluge Leute waren es, ein solches Wappenschild zu führen; denn alle ihre Feinde mussten gewiss schon vor Angst vergehen, sobald sie es nur erblickten! Schmutzel bewegte den Schellenzug und der Forstaufseher trat heraus, um zu öffnen. 'Man sagte mir, ich sollte dich erwarten', begann Letzterer. 'Nun wirst du so gut sein, die Hauptallee hinauf zu gehen, aber lasse mich weder Hasen noch Kaninchen bei dir finden, wenn du zurückkommst. Ich werde scharf nachsehen, das sage ich dir.' 'Aber doch nicht, wenn sich der Braten auf dem Boden des Rußsackes befindet', entgegnete Schmutzel und lachte über seine eigenen Worte; auch der Forstaufseher lachte und sagte: 'Wenn man seine Sache auf diese Weise besorgt, dann wird es besser sein, ich gehe mit hinauf zum Schloss.' 'Ich denke, du wirst gut daran tun. Es ist dein Geschäft nach dem Wild zu sehen, und nicht meines.' Der Forstaufseher ging hierauf mit ihm, und zu Toms Verwunderung plauderte er mit Schmutzel den ganzen Weg entlang ganz munter zusammen. Er wusste noch nicht, dass ein Forsthüter ein Wilddieb ist, der von außen eingeschlossen, und ein Wilddieb ein Forstaufseher, der von innen ausgeschlossen ist. So gingen sie wohl eine volle Meile durch eine Lindenallee und Tom blickte zitternd durch ihre Stämme nach den Hörnern des in Farnkraut schlafenden Rotwildes. Tom hatte noch niemals so kolossale Bäume gesehen, und als er an ihnen empor schaute, bildete er sich ein, der blaue Himmel liege auf ihren Häuptern. Aber er wurde vollständig durch ein summendes Geräusch verwirrt, das ihnen auf dem ganzen Weg folgte. Seine Verwirrung steigerte sich so sehr, dass er sich endlich Mut fasste und den Forstaufseher fragte, was das zu bedeuten habe. Er sprach sehr höflich zu ihm und nannte ihn Sir, denn er hatte fürchterlichen Respekt vor ihm, was den Forstaufseher weidlich freute, darum erzählte er ihm, dass die emsigen Bienen in den Bäumen das summende Geräusch verursachten. 'Was sind Bienen?' fragte Tom. 'Die den Honig bereiten.' 'Was ist Honig?' fragte Tom. 'Du hältst dein Maul!' fiel hier Schmutzel ein. 'Lass doch den Buben', erwiderte der Forstaufseher. 'Er ist ein artiger junger Bursche und wird es gewiss nicht lange bleiben, wenn er unter deinem Kommando verweilt.' Schmutzel lachte, denn er nahm dieses für ein Kompliment. 'Ich wollte, ich wäre ein Forstaufseher', sagte Tom, 'und könnte an einem so herrlichen Ort wohnen und grüne Samtkleider tragen und hätte eine echte Hundspfeife auf dem Stockknopf, wie Sie.' Der Wildhüter lachte, denn er war ein gutherziger Kerl. 'Sei zufrieden mit dem, was du hast und bist, und so will ich es auch halten. Dein Leben ist jedenfalls sicherer als meines; nicht wahr, Herr Schmutzel?' Und Schmutzel lachte aufs neue, und dann fingen sie beide an, leise miteinander zu sprechen. Aber dennoch konnte Tom hören, dass es sich um irgendeinen Kampf mit Wilddieben handelte; endlich aber sagte Schmutzel finster: 'Hast du irgendetwas gegen mich?' 'Im Augenblick nicht.' 'Dann frage mich nicht eher aus, als bis du etwas gegen mich hast, denn ich bin ein Ehrenmann.' Hierauf lachten die beiden wiederum und dachten, dass es recht spaßig gewesen wäre. Jetzt erreichten sie das große eiserne Tor vor dem Wohnhaus, und Tom starrte hindurch zum Rhododendron und den Azaleen, die alle in voller Blüte standen, dann zum Haus selber, und verlangte zu wissen, wieviel Schornsteine wohl darin seien und wie lange es her sein möge, dass es gebaut wurde, und wie der Mann, der es gebaut hatte, geheißen haben mochte, und ob er auch viel Geld dabei verdiente? Die letzten Fragen waren schwer zu beantworten, denn Harthover wurde in neunzig verschiedenen Zeitabschnitten und in neunzehn verschiedenen Stilen gebaut und hatte das Aussehen, als hätte irgendjemand eine ganze Straße von Häusern in jeder denkbaren Form errichtet und sie dann mit einem Löffel nebeneinander gereiht. Denn die Mansarden waren angelsächsisch. Der dritte Stock normannisch. Der zweite Cinquecento. Der erste Stock Tudorstil. Der erste Flügel rein dorisch. Der Mittelbau alt-englisch, mit einem ungeheuren Portico, dem Parthenon nachgeahmt. Der linke Flügel rein böotisch, den die Bauern am meisten bewunderten, denn er sah genauso aus, wie scheuerähnliche Kasernen, nur dreimal so groß. Die große Treppe war den Katakomben in Rom nachkopiert, die hintere Treppe dem Tajmahal in Agra. Ihr Erbauer war Sir Johns Ur-Ur-Uronkel, der in den indischen Kriegen unter Lord Clive[5] viel Geld gewann und viele Wunden erhielt, sich aber doch keinen besseren Geschmack aneignete als seine Vorgesetzten. Die Keller hatte man den Höhlen von Elephanta[6] nachgebildet. Die Büros waren im Stil des Pavillons zu Brighton gehalten. Und der Rest hatte mit nichts im Himmel oder auf oder unter der Erde gemein. So wurde denn Harthover-Haus ein Rätsel für alle Antiquare und ein vollständiger Naboths-Weinberg[7] für Kritiker, Architekten und alle Personen, die sich gern um anderer Leute Angelegenheiten kümmern und anderer Leute Geld ausgeben. So hingen denn gar viele Menschen an Sir John und suchten ihn zum Bauen zu bewegen und hunderttausend Pfund Sterling dafür zu verwenden, womit er ihnen einen guten, sich selber aber einen schlechten Gefallen erwiesen hätte. Aber er wusste sie als ein pfiffiger Nordländer, der er war, hinzuhalten. Einer wollte ihm ein Haus im Stil der Gothen bauen, aber er sagte, dass er kein Gothe sei; ein anderer trug großes Verlangen, eines im Tudorstil auszuführen, aber er bemerkte, dass er unter der Königin Victoria lebe und nicht unter der guten Königin Bess[8]; ein Dritter war kühn genug, ihm zu erklären, dass sein Haus hässlich sei, aber er erwiderte, dass er im Inneren wohne und nicht außen; und ein Vierter meinte, dass in dem Gebäude keine Einheit herrsche, aber er entgegnete, dass dies gerade der Grund sei, warum er es liebe. Denn er hielt etwas darauf, an seiner Wohnung die Zeichen zu sehen, die jeder Sir John und Sir Hugh und Sir Ralph und Sir Randal zurückgelassen hatten, und zwar jeder nach seinem eigenen Geschmack; daher fiel es ihm ebensowenig ein, das Werk seiner Vorfahren zu zerstören, wie er daran dachte, sie in ihren Gräbern zu beunruhigen. Denn so sah man dem Haus doch an, dass es wirklich bewohnt war und eine Geschichte hatte, welche fort und fort gewachsen war, wie die Welt wächst. Er meinte ferner, dass es nur ein emporgekommener Kerl sein könne, der nicht einmal seinen eigenen Großvater ehre, der dessen Machwerk in ein funkelndes, modernes Gebäude umwandeln würde, damit es aussehe, als sei es wie ein Pilz in einer Nacht aus der Erde geschossen. Hieraus kannst du schließen – wenn du Geist genug dazu hast –, dass Sir John ein vernünftiger und gescheiter Landbesitzer war und genau der Mann, der sein Eigentum in Ordnung hielt und mit seinen Jagdhunden ein gutes Treibjagen abzuhalten verstand. Tom und sein Meister gingen nicht durch das große eiserne Tor, als wären sie Herzöge oder Bischöfe gewesen; sie marschierten auf einem langen Weg zur hinteren Seite des Schlosses und traten durch ein Pförtchen ein, wo sie den Küchenjungen fanden, der fürchterlich gähnte; dann begegneten sie in einem Durchgang der Haushälterin in einem so sehr geblümten persischen Schlafrock, dass Tom sie für die Dame des Hauses hielt. Sie gab Schmutzel feierliche Befehle, wie: Sie werden acht auf dies und acht auf das geben, als wenn er die Kamine hinaufzuklettern gehabt hätte, und nicht Tom. Schmutzel hörte aufmerksam zu, sagte nur dann und wann mit unterdrückter Stimme: 'Du wirst dir das gesagt sein lassen, du kleiner Bettler!' Und Tom ließ es sich gesagt sein, wenigstens so gut, wie er konnte, hierauf wies sie die Haushälterin in ein geräumiges Zimmer, das ganz mit großen Bogen braunem Papier bedeckt war, und dann befahl sie mit schrecklich hochmütiger Stimme, die Arbeit zu beginnen. Tom, nachdem er noch einmal die mürrischen Befehle seines Meisters nebst einem Fußtritt erhalten hatte, näherte sich dem Kaminrost und kletterte den Schornstein hinauf, während eine Magd im Zimmer verweilte, die Möbel zu bewachen, und der Herr Schmutzel manche spielerische und ritterliche Komplimente zuteil werden lies, die indessen sehr kalt und wenig ermutigend aufgenommen wurden. Wieviel Schornsteine Tom fegte, das kann ich nicht sagen; aber es waren deren so viele, dass er sehr müde und zu gleicher Zeit verwirrt wurde; denn sie hatten keine Ähnlichkeit mit jenen in der Stadt, deren Einrichtung er genau kannte, sondern es waren Kamine, wie du sie in alten Landhäusern finden kannst – wenn du in ihnen hinaufklettern und nachsehen willst, was du wahrscheinlich unterlassen wirst –, große und gebogene Kamine, die man wieder und wieder verändert hatte, bis das eine in das andere führte, bis sie 'ineinander verlaufend' waren, wie sich Professor Owen[9] ausdrücken würde. Darum verlor Tom leicht seine Richtung in ihnen, was ihn weniger zur Besorgnis führte, da er im Dunkeln, wo man keine Hand vor Augen sieht, ebenso zu Hause war, wie der Maulwurf in der Erde, als vielmehr das Herunterkommen durch einen falschen Kamin. So kam es, dass Tom sich in einem mit Teppichen und Pelzmatten ausgelegten Zimmer, wie er es nie zuvor gesehen hatte, wiederfand. Tom hatte nie dergleichen gesehen. Er war nur in den Zimmern vornehmer Leute gewesen, wenn sich kein Teppich und kein Vorhang mehr darin befand, wenn die Möbel auf einem Platz standen, mit Leinenzeug bedeckt und die Bilder mit Schürzen und Staubtüchern verhüllt waren. Ja, er wünschte oft zu wissen, wie diese Zimmer aussehen möchten, wenn man alles darin in Ordnung gebracht und zum Bewohnen hergerichtet hätte. Aber jetzt sah er eines und dachte, dass es recht schön aussähe. Das Zimmer war ganz in weiß gehalten: weiße Fenstervorhänge, weißer Betthimmel, weiße Möbel und weiße Wände mit nur einigen hellroten Linien hier und da. Der Teppich war sehr schön geblümt und an den Wänden hingen Bilder in Goldrahmen, die Tom sehr ergötzten. Sie stellten Herren und Damen dar, Pferde und Hunde. Die Pferde gefielen ihm, aber die Hunde erregten ihm kein Interesse, denn es war kein Bullenbeißer darunter, nicht einmal ein Dachshund. Von den beiden Bildern, die ihm am meisten in die Augen stachen, stellte das eine einen Mann in langem Gewand dar, umringt von kleinen Kindern mit ihren Müttern, wie er seine Hände auf die Häupter der Kleinen legte. Tom dachte, dass dies ein sehr schönes Bild sei, um in einer Dame Zimmer zu hängen. Denn er konnte an den zerstreut umherliegenden Kleidern wahrnehmen, dass es ein Damenzimmer war. Das andere Bild zeigte einen an ein Kreuz genagelten Mann, was Tom in großes Staunen setzte. Er glaubte etwas ähnliches in einem Ladenfenster gesehen zu haben. Aber warum war es hier? 'Armer Mann', dachte Tom, 'und er sieht so gütig und ruhig aus. Warum hatte die Dame ein so trauriges Bild wie dieses in ihrem Zimmer. Vielleicht war es irgendein Anverwandter, der in fremden Erdteilen von den Wilden ermordet wurde, und sie besitzt es als Andenken.' Tom wurde von Trauer und Ehrfurcht bewegt und wandte sich um, damit er etwas anderes sähe. Was ihn zunächst in Staunen setzte, das war ein Waschtisch mit Lavoir[10], Wasserkanne, Seife, Bürsten und Handtüchern; dann eine große mit frischem Wasser gefüllte Badewanne, und sonst noch ein Haufen von Reinigungsgegenständen. 'Das muss eine sehr schmutzige Dame sein', dachte Tom, 'da sie so viele Sachen zum Scheuern nötig hat. Aber sie muss gleichzeitig auch sehr pfiffig sein, dass sie so schnell allen Schmutz beseitigt, denn ich sehe nicht ein Fleckchen im ganzen Zimmer und nicht einmal eins an den Handtüchern.' Nun blickte er zum Bett und sah jene schmutzige Dame, und hielt vor Staunen den Atem an. Unter der schneeweißen Bettdecke, auf schneeweißem Kopfkissen, lag ein wunderschönes kleines Mädchen, wie Tom noch niemals eins gesehen hatte. Ihre Wangen waren beinahe so weiß, wie das Kopfkissen, und ihre Haare breiteten sich wie Goldfäden über das Bett. Sie konnte etwa so alt wie Tom sein oder ein oder zwei Jahre älter; aber an dergleichen dachte er nicht. Er dachte nur, wie zart ihre Haut und wie golden ihr Haar sei, und wollte wissen, ob sie wirklich eine lebende Person wäre oder eine jener Wachsfiguren, wie er sie in den Läden gesehen hatte. Aber als er ihre Atemzüge bemerkte, da glaubte er, dass sie lebendig sei, und starrte zu ihr, als wäre sie ein Engel vom Himmel gewesen. 'Nein. Sie kann nicht schmutzig sein. Sie konnte niemals schmutzig gewesen sein', sagte er zu sich selber. Und dann dachte er: 'Sind denn alle Leute rein wie sie, wenn sie sich gewaschen haben?' Er blickte zu seinem eigenen Handgelenk und versuchte den Ruß abzureiben, zweifelte aber, dass er jemals abgehen werde. 'Freilich würde ich viel hübscher aussehen, wenn ich so aufwüchse wie sie.' Er sah sich wieder um und bemerkte plötzlich in seiner nächsten Nähe eine kleine, hässliche, schwarze, zerlumpte Figur mit triefenden Augen und grinsenden Zähnen. Er machte eine ärgerliche Bewegung zu ihr. Was hatte so ein kleiner, schwarzer Affe in dem Zimmer dieses lieblichen, jungen Fräuleins zu tun? Und siehe! Er war es selber, es war sein Bild in einem großen Spiegel, das er noch niemals zuvor gesehen hatte. Tom fühlte zum ersten Mal in seinem Leben, dass er schmutzig war, und brach vor Scham und Ärger in Tränen aus. Er wandte sich um und schlich zum Kamin zurück, damit er sich verberge, wobei er an das Kamingitter stieß und die darauf liegenden Feuerutensilien, wie Stocher, Zange und Schippe auf den Boden warf, dass es einen Lärm gab, als hingen zehntausend Blechkessel an den Schwänzen toller Hunde. Das kleine, weiße Fräulein sprang auf, sah Tom und begann gellend wie ein Fasanenhahn in ihrem Bett zu schreien. Aus dem anstoßenden Zimmer stürzte sofort eine alte dicke Kammerfrau herein, die, als sie Tom bemerkte, glaubte, dass er gekommen sei, um zu stehlen, zu plündern, zu morden und das Haus anzustecken; sie versuchte ihn zu fangen, während er auf der Kaminvorlage zappelte, und fasste nach seiner Jacke. Aber sie hielt ihn nicht fest. Tom war mehr als einmal in den Händen der Polizeidiener gewesen, und was noch mehr ist, er schaffte sich auch wieder heraus; ja er würde sich geschämt haben, je wieder vor seine Freunde zu treten, wenn er sich so dumm angestellt hätte, von einer alten Frau gefangen zu werden. Er brauchte nicht aus dem Fenster hinunter zu springen, obwohl er es unter Umständen getan hätte. Er brauchte sich nicht einmal an der Rinne herunter zu lassen, was ein altes Spiel für ihn gewesen wäre. Denn eines Tages kletterte er daran zum Kirchendach empor, um Dohleneier auszuheben, wie er sagte; aber der Polizeidiener sagte, um Blei zu stehlen. Trotzdem man ihn auf seinem luftigen Sitz bemerkt halte, blieb er ruhig sitzen, bis ihm die Sonne zu heiß wurde und ihn vertrieb. Da ließ er sich an einer anderen Rinne nieder und erlaubte dem Polizeidiener, auf sein Revier zu geben und sein Mittagessen zu verzehren. Aber unter dem Fenster breitete sich ein Baum mit großen Blättern und süßen weißen Blüten aus, die fast so dick waren wie sein Kopf. Ich denke mir, dass es eine Magnolie war; indessen wusste Tom nichts darüber und kümmerte sich noch weniger darum. An diesem Baum machte er sich wie eine Katze herunter; dann ging es über den Grasplatz im Garten und über die eisernen Geländerstangen, den Park hinauf zum Gehölz; die alte Kammerfrau lies er 'Mörder' und 'Feuer' schreiend im Fenster zurück. Der Untergärtner, der gerade das Gras abmähte, sah Tom und warf seine Sense weg, wobei er sich so arg schnitt, dass er eine Woche im Bett zubringen musste; aber in seiner Eile bemerkte er es vorerst nicht und machte sich auf die Jagd nach dem armen Tom. Die Milchmagd hörte den Lärm, sprang auf, stürzte über das Butterfass, das sie mit ihren Knien hielt, und verschüttete all den Rahm; aber sie raffte sich auf und machte sich auf die Jagd nach Tom. Ein Stallknecht, der Sir Johns Reitpferd im Stall putzte, lies es los, wodurch es sich innerhalb fünf Minuten lahm schlug; aber er rannte nichtsdestoweniger hinaus und machte sich auf die Jagd nach Tom. Schmutzel verschüttete den Rußsack in dem frisch mit Kies belegten Hof, womit er ihn vollständig verdarb; aber er lief hinaus und machte sich auf die Jagd nach Tom. Der alte Schlossverwalter öffnete mit solcher Eile das Parktor, dass er das Kinn seines Pony an die Geländerspitze aufhing, und wer weiß, das arme Tier hängt vielleicht noch dort; aber er sprang ab und machte sich auf die Jagd nach Tom. Der Ackerknecht lies seine Pferde an der Feldumzäunung stehen und das eine sprang über die Hecke und schleifte dabei das andere in den Graben; aber der Mann machte sich auf die Sohlen und auf die Jagd nach Tom. Der Forstaufseher, gerade damit beschäftigt, einen Iltis aus der Falle zu nehmen, lies diesen los und verletzte dabei seine Finger; aber er stürzte fort und machte sich auf die Jagd nach Tom, und wenn man gehört hätte, was er sagte und wie er aussah, so sollte mir es leid getan haben, wenn er Tom eingeholt hatte. Sir John sah aus dem Fenster seines Studierzimmers hinauf zu der schreienden Kammerfrau – denn er war sehr früh, als ihm der Schmutz einer Mauerschwalbe ins Auge fiel, so dass er schließlich noch zum Arzt schicken musste; aber dessenungeachtet lief er hinaus und machte sich auf die Jagd nach Tom. Die Irin befand sich auch auf dem Weg zum Landsitz, um zu betteln – sie musste auf irgendeinem Nebenweg gekommen sein – aber sie warf ihr Bündel weg und machte sich auf die Jagd nach Tom. Nur die Dame des Hauses unterlies die Verfolgung, denn als sie ihren Kopf aus dem Fenster steckte, fiel ihre Nachtperücke in den Garten hinunter, und so musste sie schellen, um ihrer Zofe zu sagen, dass sie stillschweigend und ohne Aufsehen ihren Kopfschmuck hole. Kurz gesagt, hatte man auf diesem Schloss, selbst dann nicht, wenn der gehetzte Fuchs in dem großen Gewächshaus getötet worden war, und wenn es ganze Felder von zerbrochenem Glas und ganze Tonnen von zerschlagenen Blumentöpfen gab, so viel Geräusch, Lärm, Geschrei, Gewäsch, Spektakel, Keuchen und Stöhnen und Hollarufen gehört und eine solch totale Verachtung der Würde, der Ruhe und der Ordnung erlebt, wie an dem Tag, an dem Schmutzel, der Gärtner, der Stallknecht, die Milchmagd, Sir John, der Schlossverwalter, der Ackerknecht, der Forstaufseher und die Irin durch den Park stürzten, schreiend: 'Haltet den Dieb!' in der Meinung, dass Tom wenigstens Juwelen im Wert von tausend Pfund Sterling in seinen leeren Taschen berge. Ja, selbst die sonst so scheuen und vorsichtigen Elstern und Spechte flogen Tom nach, krächzend und schreiend, als wäre er ein gehetzter Fuchs gewesen, der anfängt, seine Rute sinken zu lassen, d.h. klein beizugeben. Und während dieser ganzen Zeit patschte der arme Tom mit seinen kleinen entblößten Füßen den Park hinauf, wie ein kleiner schwarzer, in den Wald entfliehender Gorilla. Ach, leider! Da gab es keinen Gorillavater für ihn, der sich seiner angenommen hätte, um mit einer Tatze das Inwendige des Gärtners herauszukratzen, und mit der anderen die Milchmagd auf einen Baum zu schleudern, und mit einer dritten Sir Johns Kopf abzureißen, während er mit seinen Zähnen leicht und mühelos des Forstaufsehers Kopf zermalmte, und wäre er so hart wie eine Kokosnuss oder ein Pflasterstein gewesen. Tom erinnerte sich indessen nicht, jemals einen Vater gehabt zu haben, und so sah er sich nach keinem um; aber er wusste, dass er für sich selber zu sorgen hatte. Was das Laufen betraf, so konnte er schon für einige Meilen einem Postwagen folgen und zehnmal hintereinander Räder dabei schlagen, wenn es galt, eine Kupfermünze oder einen Zigarrenstummel zu erhaschen, was mehr ist, als du zu tun vermagst. Deshalb hatten es seine Verfolger sehr schwer, und wir wollen hoffen, dass sie ihn überhaupt nicht einfingen. Natürlich versuchte Tom den Wald zu erreichen. Er war nie in seinem Leben in einem Wald gewesen, aber er besaß Verstand genug, zu verstehen, dass er sich dort in einem Strauch verbergen oder auf einen Baum klettern könnte, und wo ihm überhaupt der Zufall günstiger sei als im offenen Feld. Wenn er das nicht begriffen hätte, so würde er dümmer als eine Maus oder ein Hamster gewesen sein. Aber sobald er das Gehölz erreichte, fand er, dass es sehr verschieden war von dem, was er sich darüber eingebildet hatte. Er geriet in ein Dickicht aus Rhododendron und sah sich alsbald wie in einer Falle. Die Zweige hielten seine Beine und Arme fest, ritzten sein Gesicht und stießen wider seinen Leib, und zwangen ihn, seine Augen zu schließen – obwohl das kein großer Verlust für ihn war, denn er vermochte kaum einen Schritt weit zu sehen – und als er sich vom Rhododendron befreit hatte, hingen sich Riedgras und Binsen an ihn und verwundeten schließlich ganz jämmerlich seine armen kleinen Finger; die Birken ließen ihn ihre Ruten so gründlich empfinden, als wenn er der Sohn eines Edelmannes auf der Schule zu Eton[11] gewesen wäre, und trafen selbst sein Gesicht – was doch nicht recht ist, wie jeder brave Schulbube zugeben wird – und die Dornen brachten ihn zu Fall und zerrissen seine Haut, als hätten sie Haifischzähne gehabt und ihn damit bearbeitet. 'Hier muss ich herauskommen', dachte Tom, 'oder ich werde hängen bleiben, bis jemand kommt und mir behilflich ist, was ich aber durchaus nicht wünsche.' Aber wie herauskommen? Das war die schwierige Frage. Ich glaube wirklich nicht, dass er sich jemals aus dieser kritischen Lage herausgearbeitet hätte, wenn er nicht plötzlich seinen Kopf gegen eine Mauer gestoßen hätte. Es ist aber durchaus kein Vergnügen, seinen Kopf gegen eine Mauer zu rennen, besonders wenn es eine rauhe und ohne Mörtel ausgeführte ist, und wenn ein spitzer Stein dich dabei zwischen die Augen trifft und bewirkt, dass du plötzlich alle Arten von herrlichen Sternen siehst. Die Sterne sind gewiss sehr schön; aber unglücklicherweise erscheinen sie dir in dem zwanzigtausendsten Teil einer zerlegten Sekunde, und der nachfolgende Schmerz dauert etwas länger. Und so verletzte Tom seinen Kopf; aber er war ein braver Bursche und gab nicht einen Heller dafür. Er vermutete, dass auf der anderen Seite der Mauer das Gehölz aufhören würde, und so sprang er leicht wie ein Eichhörnchen an ihr hinauf. Er befand sich nun auf jenem großen Heidehuhngehege, das die Bauern Harthoverberg nannten, ein Hügelplateau, bedeckt von Heidekraut, Sumpf und Felsen, das sich fort und fort erstreckte bis wo der Himmel auf der Erde lag und noch darüber hinaus. Nun, Tom war ein kleiner schlauer Kerl – so schlau und listig, wie ein alter Exmoor-Hirsch. Warum nicht? Obwohl er erst zehn Jahre zählte, hatte er doch länger als die meisten Hirsche gelebt und besaß dabei mehr Mutterwitz als sie, seine Angelegenheiten zu betreiben. Er wusste ebenso, wie ein Hirsch, dass er die Hunde von der Fährte abbringe, wenn er sich zurückbewegte. So war denn das Erste, was er unternahm, sobald er die Mauer hinter sich hatte, dass er kurz rechts abbog und in verschärftem Lauf eine halbe Meile weit längs derselben hintrabte. Durch dieses Manöver wurden Sir John und der Forstaufseher und der Schlossverwalter und der Gärtner und der Ackerknecht und die Milchmagd und alle übrigen den Missetäter verfolgenden Schreier in die verkehrte Richtung gebracht, sie liefen eine halbe Meile weit zu der entgegengesetzten Seite innerhalb der Mauer, wodurch Tom außerhalb derselben eine ganze Meile Vorsprung erreichte. Er hörte, wie die Rufe der Verfolger im Gehölz immer schwächer wurden, und musste recht herzlich darüber lachen. Die Irin war es allein, die wahrgenommen hatte, auf welchem Weg Tom entschlüpfte. Sie befand sich während der ganzen Zeit an der Spitze der Verfolger, und doch ging sie nicht und lief auch nicht. Sie bewegte sich in sanfter, anmutiger Weise vorwärts, während sich ihre Füße so schnell versetzten, dass man nicht sehen konnte, welcher der vordere sei. Man fragte sich gegenseitig, wer denn diese fremde Frau sei, und alle kamen aus Mangel, etwas anderes vorzubringen, darin überein, sie müsse sich mit Tom im Einverständnis befinden. Aber als sie die Plantage erreichten, war ihnen die Frau aus den Augen gekommen. Sie stieg Tom ruhig über die Mauer nach und ging in derselben Richtung weiter. Sir John und die übrigen sahen und hörten nichts mehr von ihr – aus den Augen gekommen, war auch aus dem Sinn gekommen. Tom befand sich nunmehr ziemlich weit weg auf einer Heide, einer ziemlich unebenen Fläche Landes, wo Felsen und Steine massehaft zerstreut lagen, indessen wegsam genug, dass er bequem dahin schlendern und selbst Zeit finden konnte, sich verwundert in dieser fremden Gegend, die ihm wie eine neue Welt erschien, umzuschauen. Er sah da große Spinnen, auf ihrem Rücken mit Kronen und Kreuzen gezeichnet, mitten in ihren Geweben sitzend, die sich aber unsichtbar machten, sobald er in ihren Bereich kam. Dann sah er braune, grüne und graue Eidechsen, von denen er glaubte, es seien Schlangen, die ihn beißen wollten; aber sie fürchteten sich ebenso sehr wie er, und raschelten fort und versteckten sich auf der Heide. Da, unter einem Felsen, bot sich ihm ein schönes Bild dar. Er sah ein feines braunrotes Tier von der Größe eines gewöhnlichen Hundes, mit spitzer Schnauze und weißem Ende an der langen, starken Rute; fünf kleine, schmutziggrau aussehende Junge spielten rings umher; es waren die drolligsten Geschöpfe, die Tom jemals gesehen hatte. Die Alte lag auf dem Rücken im hellen Sonnenschein und streckte Beine, Hals und Schwanz aus. Die Jungen sprangen über sie hinweg und spielten mit ihr, indem sie ihre Pfoten benagten und sie an den Ohren zupften, worüber sie großen Wohlgefallen zu empfinden schien. Aber ein selbstsüchtiger kleiner Kerl schlich sich von den anderen weg zu einer in der Nähe liegenden toten Krähe und schleppte sie fort, um sie zu verbergen, obwohl sie fast ebenso groß war, wie er selber. Aber seine kleinen Brüder sahen es und verfolgten ihn schreiend, wobei sie Tom bemerkten. Wie der Wind ging die ganze Gesellschaft zurück, Frau Reinecke sprang auf, packte ein Junges mit dem Maul fest, und die übrigen trollten hinter ihr drein und bargen sich in einem dunklen Riss im Felsen. So hatte die Ausstellung ihr Ende erreicht. Jetzt aber wurde Tom in Schrecken versetzt; denn als er einen kleinen Sandhügel hinaufkrabbelte – dick – dick – dack – dack – dack – schwirrte etwas mit einem schrecklichen Geräusch in sein Gesicht. Er dachte, dass man Grund und Boden in die Luft gesprengt habe und dass das Ende der Welt gekommen sei. Als er seine Augen, die er sehr fest geschlossen hielt, öffnete, war es nur ein alter Heidehahn, der sich wie ein Araber aus Mangel an Wasser im Sand wusch, und nachdem Tom auf ihn getreten war, mit einem merkwürdigen Lärm aufging, sein Weibchen und seine Kinder wie ein Feigling ihrem Schicksal überließ und schreiend davonflog – 'gorr – ro – ock, gorr – ro – ock – Mörder, Diebe, Feuer – gorr – ro – ock – gick; – das Ende der Welt ist da – gick – gick – gick – gick.' Er bildete sich das immer ein, wenn sich irgendetwas ereignete, was etwas weiter reichte, als das Ende seines eigenen Schnabels. Aber das Ende der Welt war ebensowenig da, wie der 12. August – wenn in England die Jagd auf ihn eröffnet wird – obwohl der alte Heidehahn das ganz genau wusste. Nach einer Stunde etwa kehrte er zu seinem Weibchen und seiner Familie zurück, indem er feierlich sagte: 'Gock – gock – gick; meine Lieben, das Ende der Welt ist noch nicht ganz da, aber ich versichere euch, dass es übermorgen kommen wird – gock.' Aber sein Weibchen hatte das schon so oft gehört, dass es genug darüber wusste und noch ein wenig mehr. Außerdem war es Mutter und hatte sieben kleine Kücken zu hüten und jeden Tag zu füttern; dadurch wurde es sehr praktisch und ein bischen scharfsinnig, antwortete daher nichts weiter, als: 'Gack – gack – gack – gehe und fange Spinnen, gehe und fange Spinnen – gack.' Tom schritt nun weiter und weiter und wusste kaum, warum; aber ihm gefiel das große, breite, fremde Stück Erde, und die kühle, frische, stärkende Luft tat ihm wohl. Indessen je höher es den Hügel hinaufging, desto langsamer wurden seine Schritte; und das Weiterschreiten gestaltete sich immer schwieriger. Anstatt des weichen Torfes und der elastischen Heide fand er große, flache Kalkfelsstücke, die ihm genauso erschienen, wie schlecht gelegtes Pflaster, worin sich tiefe, mit Farnkraut ausgefüllte Löcher befanden. Deshalb war er genötigt, von Steinspitze zu Steinspitze zu springen; dabei verfehlte er manchmal auch sein Ziel, wodurch er seine kleinen nackten Zehen verletzte, obwohl sie ziemlich fest und abgehärtet waren. Dennoch setzte er seinen Weg fort, wusste aber nicht, warum er es tat. Was würde Tom gesagt haben, wenn er gesehen hätte, dass dieselbe Irin, die sich seiner auf dem Weg nach dem Schloss angenommen hatte, ihm über das Moorland folgte? Kam es, dass er zu wenig zurückblickte, oder kam es, dass sie sich hinter den Felsen und kleinen Hügeln außer Sicht zu halten wusste – genug, er sah sie nicht, obwohl sie ihn nicht aus den Augen verlor. Jetzt fing Tom an, etwas Hunger und Durst zu spüren, denn er hatte einen langen Weg zurückgelegt. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Felsen strömten Hitze aus wie heiße Öfen, und die Luft tanzte und kreiste über ihnen, wie sie es über Kalköfen zu tun pflegt, bis alles rings umher zu zittern und zu schmelzen schien im Glanz des heißen Sommertages. Aber er vermochte nirgends etwas zu entdecken, das er hätte essen, noch weniger trinken können. Die Heide stand voll von Heidelbeeren und Brombeersträuchern, aber diese blühte erst, weil der Juni noch nicht vorüber war. Und was das Wasser betrifft, so wird man wohl keines auf der Spitze eines Kalksteinfelsens finden. Hier und da kam er an tiefen, schwarzen Löchern vorüber, die in die Erde hinunter führten, als wären es Schornsteinröhren unterirdischer Häuser von irgendwelchen Zwergen gewesen, und mehr als einmal konnte er im Vorbeischreiten tief unten in unsichtbarer Entfernung Wasser sickern und tropfen hören. Wie sehnte er sich, hinunter zu gehen und seine armen, verletzten Lippen zu fühlen! Aber so wenig Furcht er auch als kleiner Schornsteinfeger besaß, so wagte er doch nicht, ins Ungewisse hinunterzuklettern. So schritt er denn weiter und weiter, bis ihm sein Kopf von der Hitze schwindelte und es ihm vorkam, als höre er in weiter Entfernung Glocken läuten. 'Ach!' sagte er zu sich selber, 'wo es eine Kirche gibt, da sind auch Häuser und Menschen, und vielleicht wird mir jemand etwas Suppe geben und einen Bissen Brot.' Wiederum schritt Tom vorwärts, um sich nach der Kirche umzuschauen; denn er glaubte ganz gewiss, Glocken hell und volltönend gehört zu haben. Bald hierauf sah er sich um, blieb aufs neue stehen und sagte: 'Ei, was für ein großes Stück Land ist doch die Welt!' Das war freilich der Fall; denn von dem Gipfel des Berges sah er – was sah er wohl? Weit, weit hinter ihm lag Harthover und der dunkle Wald und der glänzende Fluss. Weit, weit zu seiner Linken sah er die Stadt mit rauchenden Schornsteinen und den Bergwerken. In weiter Ferne bemerkte er, wie der Fluss sich ausdehnte und zum schimmernden Meer floss, und kleine weiße Flecken, die Schiffe waren, hielt es an seiner Brust. Alles das schien zu seinen Füßen zu liegen, aber er besaß Verstand genug, zu begreifen, dass diese Gegenstände viele Meilen von ihm entfernt seien. Zu seiner Rechten stieg Moorland hinter Moorland auf, Hügel hinter Hügel bis sie in weiter Ferne am blauen Himmel verschwanden. Aber zwischen ihm und jenen Heideflächen lag wirklich etwas zu seinen Füßen, das Tom, sobald er es bemerkte, aufsuchen wollte, denn das war der richtige Ort für ihn. Ein tiefes, tiefes, grünes felsiges Tal, sehr eng und bewaldet, erblickte er vor sich. Durch die Bäume vermochte er viele hundert Fuß unter sich den Schimmer eines klaren Baches zu sehen. Oh, wenn er nur hinunter zu diesem Wasser gelangen könnte! Dann bemerkte er an seinem Ufer das Dach eines kleinen Landhauses und einen kleinen in Quadrate und Beete abgeteilten Garten. Ein winzigkleines, rotes Geschöpf bewegte sich darin und erschien nicht größer als eine Fliege. Als Tom hinabblickte, bemerkte er, dass es eine Frau mit einem roten Rock war. Ach! Vielleicht würde sie ihm etwas zu essen geben! Auch die Glocken tönten wieder, da musste sicherlich ein Dorf liegen. Wer sollte ihn kennen, wer erfahren haben, was sich ereignet hatte? Die Nachricht konnte noch nicht bis hierher gedrungen sein, selbst wenn Sir John alle Polizeidiener der Grafschaft hinter ihm her gejagt hätte; und in fünf Minuten vermochte er hinunterzueilen. Tom hatte recht in Bezug auf das Geschrei, das man bei seiner Verfolgung ausstieß; bis zu diesem Ort war es noch nicht gedrungen; denn es lagen nun zwischen ihm und Harthover ungefähr zehn Meilen, wovon er indessen keine Ahnung hatte. Doch täuschte er sich, in fünf Minuten zu dem Landhäuschen hinabzusteigen; es lag mehr als eine Meile entfernt und gut tausend Fuß tief unter ihm. Indessen eilte Tom als mutvoller Bursche hinunter, trotz wunder Füße, trotz Müdigkeit, Hunger und Durst. Während die Glocken laut ertönten, dachte er, dass sie sich wohl in seinem eigenen Kopf befinden müssten. Der Bach glänzte und schimmerte tief unter ihm und das folgende ist das Lied, das daraus herausklang: Klar und kühl, klar und kühl, Vorbei am Ufer mit Wonnegefühl; Kühl und klar, kühl und klar, Vorbei, wo’s lieblich ist und wo Gefahr. Vorbei, wo auf Felsen das Vöglein singt, Wo’s Glöcklein der Kirche so andächtig klingt, Sauber für alle, die sauber und rein: Spring, spielendes Kind, spring Mutter hinein. Trüb und schlecht, trüb und schlecht, Vorbei, wo der Schmutz der Stadt sich erfrecht; Schlecht und trüb, schlecht und trüb, Vorbei, wo Morast und Schlamm hängen blieb. Schwarz und schwärzer, je weiter ich geh’, Faul und fauler, je tiefer ich seh’, Wer wagt zu spielen mit dem, was nicht rein? Mutter und Kind, oh springt nicht hinein. Stark und frei, stark und frei, Eil’ ich zum Meer, dass Gespiel ich ihm sei; Frei und stark, frei und stark Schäum’ ich hinunter die Landesmark; Dorthin, wo’s Fischlein im Goldsand spielt, Wo man die Flut, die schwellende, fühlt; Und wie ein Sünder, dem man vezieh’n, Will ich als Teil zum Ganzen flieh’n. Sauber für alle, die sauber und rein: Spring, spielendes Kind, spring Mutter hinein. Tom schritt hinunter; doch während des ganzen Weges sah er die Irin nicht, die sich stets hinter ihm befand.