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2 Die Wandernden Kirchen
Als der Tod kam, entsetzlich und finster in Gestalt einer riesigen, weit in den Himmel reichenden Welle, beruhigte sich Cornelis. Selbst das kleine Fischerboot und die kalten, schwarzen Brecher, im Kammbereich immer noch weiß und schaumstrotzend, schienen für einen Moment in ihren Bewegungen innezuhalten. In dem Jungen aus Bandahui erstarb jede Hoffnung. Hier draußen im Mahlstrom, im schwarzen Gedärm eines erbarmungslosen Ozeans, wurde ihm plötzlich klar: Er stand dem biblischen Leviathan gegenüber, einem Naturereignis, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, dem er sich nicht entziehen konnte. Es war eine Wand aus schwarzem Wasser, so hoch, dass sie den ganzen Himmel ausfüllte, um ihn, den naiven Jungen vom Land, zu zerschmettern und in die Tiefe zu reißen.
Doch nichts davon geschah.
Ein goldenes Licht erhellte plötzlich das Meer, als wäre ein riesiger Stern zwischen Boot und Welle aufgegangen, und tauchte alles in gleißendes Weiß. Cornelis’ Augen begannen zu tränen und er musste sie mit der Hand bedecken, um überhaupt sehen zu können.
Mit offenem Mund starrte er über die See. Eine menschengroße, gol¬dene Gestalt stürzte aus großer Höhe in die Tiefe und teilte mit ausgebreiteten Armen die Riesenwelle. In einem furchtbaren Getöse fielen die Wellenkämme seitlich in sich zusammen und prallten donnernd und schäumend auf das aufgewühlte Meer. Das Fischerboot begann wild zu schaukeln; Sekundenbruchteile später war das Heck im Freien, strebte himmelwärts, der kleine Außenbordmotor jaulte, rotierte für einen kurzen Moment in der Luft, und Cornelis klammerte sich verzweifelt an den Mast, als das Gefährt mit einem gewaltigen Ruck mit dem Bug voraus in die Tiefe stürzte. Der Aufprall war hart und der gesamte Ozean schien über ihn hereinzubrechen, aber das Boot blieb heil, und kurz darauf konnte der Junge wieder den Himmel sehen, während er wie verrückt nach Luft rang. Das Meer beruhigte sich etwas.
Die Gestalt des Goldenen erschien nun mit einem Mal steuerbords und blickte den Jungen mit seinem augenlosen Gesicht an. Cornelis starrte zurück und war angesichts des lebenden Gottes viel zu perplex, um einen klaren Gedanken zu fassen. Der ehemalige Ältere schien ihm etwas mitteilen zu wollen, eine Botschaft oder eine Warnung, doch anstatt zu sprechen, begann er sich in der Luft zu drehen. Immer schneller rotierte er um seine Achse, erhob sich wie von Geisterhand in den finsteren Sturmhimmel und entschwand nach einer Weile den Blicken des verdutzten Jungen.
Cornelis sank erschöpft zu Boden und presste seine Stirn gegen die Planken. Er schloss die Augen und spürte, wie er am ganzen Leib unkontrolliert zu zittern begann. Alle Kraft hatte ihn verlassen und eine erlösende Bewusstlosigkeit nahm ihn auf. So bemerkte er nicht, wie sich ganz in seiner Nähe ein metallenes Unterseeboot aus den Fluten der See erhob und Kurs in seine Richtung nahm.
Aurelius, der untersetzte Maschinist der Bruderschaft der Archivare, war der Erste, der etwas sah. Er hatte nach längerer Zeit der Untätigkeit das Periskop ausgefahren und justierte nun fieberhaft an den Drehrädchen für die Schärfe, bis er die Wellenkronen klar vor sich sehen konnte.
&quo;Was macht er da?“, keifte der Unternehmer, Herr von Harttland, und Eigentümer des U-Boots, das durch die raue See des Südmeeres schipperte. Er drehte sich hilfesuchend zu den anderen um. &quo;Ich habe ihm nicht erlaubt, irgendetwas zu berühren. He, lass die Finger von den Geräten!“
Aurelius ignorierte ihn. Der mächtigste Mann von Kabelstadt, ein riesiger, kahlköpfiger Koloss mit einem beeindruckenden Leibesumfang, der selbst Aurelius im Vergleich dünn erscheinen ließ, war jetzt nur mehr ein Maulheld, weiter nichts. Ein Gefangener an Bord seines eigenen Schiffes.
Aurelius drehte das Periskop langsam um seine Achse.
&quo;Hmm …“, machte er dabei. &quo;Hm, hmm …“
&quo;Siehst du ihn?“, fragte Michael Altfeld. Die Stimme des Älteren, der den Umgang mit Schwertern, präziser gesagt Katana, beherrschte wie kein Anderer, klang angespannt. Bange Sekunden vergingen, während das Periskop und der dicke Junge sich unmerklich weiterdrehten. Aurelius schüttelte immer wieder den Kopf, sagte aber nichts.
Sie waren auf der Suche nach Cornelis, dem Schüler des getöteten Meister Aki. Der Junge hatte sich, unvorsichtigerweise wie es schien, allein auf die geheimnisvolle Insel Tír na nÓg im Südmeer begeben, um das schwerwiegende Schisma der Bruderschaft der Archivare zu lösen.
Eigentlich hatten seine ehemaligen Begleiter gehofft, ihn noch rechtzeitig in Porta Pueritia, dem einzigen Hafen des Eilands, abpassen zu können, aber dort hatte man ihnen nur mehr die Geschichte eines blonden Jungen aufgetischt, der verzweifelt ein Boot gesucht hatte, um inmit¬ten des schlimmsten Sturms aller Zeiten nach Südland zu schippern. Und ein alter Fischer hatte bei dem Leben seiner einzigen Tochter geschworen, dass genau derselbe Junge sein einziges Boot gestohlen habe, und dass der altersschwache Kutter – zehn zu eins gewettet – niemals den Wahnsinn eines Entropischen Sturms überlebt haben konnte, selbst wenn alle Götter von Nord- und Südland gemeinsam beschützend an der Seite des Knaben gestanden und das Meer beruhigt hätten.
Wenn es sich bei diesem blonden Jungen wirklich um Cornelis handelte, so hatte der Ältere Michael Altfeld wenig später mit bedeutungsschwerer Stimme seinen Begleitern erklärt, dann wäre er wohl just in diesem Augenblick immer noch auf offener See – sollte er überhaupt noch am Leben sein, was einem Wunder gleichkäme, denn bis vor Kurzem war das Südmeer noch ein schreckliches Tollhaus gewesen, das sich nur langsam beruhigte – und sie täten gut daran, sich verdammt noch mal zu eilen.
&quo;Hören Sie, Altfeld, das ist doch scheiße …“ Der Unternehmer wandte sich an den Älteren und seine kalten Augen blitzten vor Wut. &quo;Ein Fischerboot auf hoher See zu finden, ist selbst an guten Tagen schon schwierig, bei diesem Wetter aber völlig unmöglich! Nehmen wir Kurs auf Porta Aqua oder Non’Tur, solange der Diesel noch reicht.“
&quo;Seien Sie endlich still“, gab Altfeld zurück. Er stand, schlank und groß gewachsen wie ein altertümlicher Held, mit seinen beiden Katana in den Händen, zwischen Kommandostuhl und Periskop und drehte sich langsam zu der blonden Frau herum, die sich bislang schweigend im Hintergrund gehalten hatte. Er gab ihr ein Zeichen.
Sie nickte und der Unternehmer krallte sich daraufhin in den Lehnen seines Kommandostuhls fest. &quo;Das können Sie nicht machen, Altfeld. Sagen Sie dieser Schlampe … sie wird es wohl nicht wagen …“
Colombina war neben den Unternehmer getreten und griff nach den riesigen Oberarmen des Mannes. Auf den ersten Blick erschien es unmöglich, ja fast absurd, dass es ihr gelingen würde, dieses riesige Stück Fleisch auch nur einen einzigen Millimeter zu bewegen, doch ihr Griff war wie eine Stahlklammer und der Unternehmer schrie auf, als sie mühelos seinen Arm verdrehte.
Colombina, so schön sie auch anzusehen war, war keine echte Frau.
Gehärteter Stahl ersetzte bei ihr die normale Knochenmatrix, und der Herr von Harttland erinnerte sich jetzt vermutlich schmerzhaft daran, dass unter der organischen Hülle ein hoch entwickelter Roboter des Älteren Jerry Marrks steckte. Langsam drehte Colombina dem Unternehmer den Arm auf den Rücken. Sein Gesicht wurde puterrot und ein unansehnlicher Speichelfaden tropfte von seiner Unterlippe.
&quo;Hee …“ Aurelius fuchtelte wild mit den Armen und hielt so das Maschinenmädchen davon ab, dem Unternehmer etwas wirklich Schlimmes anzutun. &quo;Ich kann etwas sehen! Ich glaube, es ist ein Boot …“
Altfeld drängte das Mitglied der Bruderschaft der Archivare rasch zur Seite und griff selbst nach dem Periskop. Er drehte es nach links und rechts, während seine Augen fieberhaft versuchten, sich an die verminderte Sicht bei sturmgepeitschter See zu gewöhnen. Nach ein paar Sekunden hatte er jedoch das Objekt, das der junge Archivar gesichtet hatte, ebenfalls im Visier.
Er drehte sich herum.
&quo;Auftauchen!“, befahl er.
&quo;Sind Sie verrückt …?“, entfuhr es dem Unternehmer, der trotz der Bedrohung durch das Maschinenmädchen nichts von seiner ungehobelten Art verloren hatte.
&quo;Auftauchen!“
&quo;Ich weigere mich …“
Colombina machte eine kurze Bewegung und der Unternehmer schrie vor Schmerz auf. &quo;Schon gut, schon gut … ich tue, was immer Sie wollen …“
Colombina ließ ihn los und er fiel keuchend in seinen Kommandostuhl zurück. Nach einigen Augenblicken des Jammerns zog er die beweglichen Bildschirmarmaturen zu sich heran und hämmerte darauf herum. Druckluft schoss hörbar in die Wassertanks. Das U-Boot tauchte auf.
&quo;Wenn Sie jetzt auf die Scheißidee kommen sollten, die Luke über unseren Köpfen zu öffnen, dann sind wir geliefert“, rief er an Altfeld gewandt. &quo;Bei diesem Seegang wäre das glatter Selbstmord!“
Der Ältere winkte ab. &quo;Lassen Sie das meine Sorge sein. Tun Sie einfach nur, was ich von Ihnen verlange.“
&quo;Sie erbärmlicher, blöder …“, giftete der Unternehmer und verschränkte die Arme vor der Brust.
Colombina verabreichte ihm emotionslos eine Ohrfeige und zog ihn aus dem Kommandostuhl.
&quo;Übernimm die Armaturen“, befahl Michael Altfeld an das Maschinenmädchen gewandt. &quo;Wir können uns nicht auf ihn verlassen. Kommst du mit der Technik des U-Boots klar?“
Colombina blickte auf die Seitenlehnen des Kommandostuhls. Überall waren winzige Bildschirme mit virtuellen Tasten und Diagrammen zu sehen. Sie nickte. &quo;Technologie aus Kabelstadt. Primitiv.“
Michael Altfeld nickte ihr zu. &quo;Sobald wir die Wasseroberfläche durchbrochen haben, öffne bitte die Einstiegsluke.“
Als Cornelis wieder zu sich kam, fühlte er einen schrecklichen Verlust, als wäre etwas äußerst Wertvolles, das er besessen hatte, von ihm gegangen. Doch er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was es war. Er fiel hinaus in die kalte, fröstelnde Wirklichkeit und blinzelte zitternd in das grelle Licht einer Deckenlampe.
Er schrie.
Er verspürte Angst. Schreckliche, nackte Angst.
&quo;Cornelis!“
Irgendjemand schüttelte ihn. Eine vertraute Stimme drang an sein Ohr. Seine Augen waren offen, doch er konnte nichts sehen. Er richtete sich auf, obwohl ihm furchtbar schwindelig war.
&quo;Cornelis!“
Er wollte nichts hören, wollte nur zurück in die rotorganische Wärme seines Traums, aus dem er gerade gefallen war.
Er blinzelte erneut.
Aurelius …? War das etwa Aurelius gewesen, der ihn gerufen hatte?
Sein Herz machte einen Sprung.
Aber ja, es war Aurelius!
Und links und rechts von ihm standen Michael Altfeld und Colombi¬na.
Verwirrt blickte er sich um. Ein seltsamer Raum aus Metall umgab ihn und die seltsame Liege, auf die man ihn gebettet hatte, vibrierte sanft.
Seine Augen huschten hierhin und dahin. Überall befanden sich An¬zeigen, Hebel, Schalter und Dampfventile. Bunte Lämpchen blinkten. Alles rings um ihn herum schien so, als befände es sich in Bewegung.
&quo;Wo … wo bin ich hier?“
Michael Altfeld sprach als Erster. Sein schmales Gesicht, die langen, schwarzen Haare, die dunklen Augen und das markante Kinn verliehen ihm etwas Abenteuerliches. Seine Stimme klang dunkel und voll wie die eines Geschichtenerzählers. &quo;Du befindest dich an Bord eines U-Bootes. In Sicherheit. Ruh dich aus, wir bringen dich in friedlichere Gewässer.“
Cornelis nickte. Er war so müde, so erschöpft. Wie sollte er in diesem Zustand mit ihnen sprechen, ihnen alles erklären?
Aber es half nichts. Sie mussten es erfahren. Sofort.
&quo;Bernadette …“, stammelte er schließlich. &quo;Sie haben sie getötet …“
Altfeld blickte verwirrt zu Aurelius und Colombina.
&quo;Nyail …“, fuhr Cornelis fort, während heiße Tränen über seine Wangen liefen. &quo;Der Gesandte des Abgründigen Gottes hat sie getötet … und sie anschließend in den Urdbrunnen geworfen, um den Goldenen hervorzulocken.“
&quo;Was redest du da?“ Altfeld griff nach seinen Schultern, packte sie schmerzhaft. &quo;Cornelis, was genau ist auf Tír na nÓg passiert? Meinst du etwa Bernadette la Halle? Bist du ihr begegnet?“
Cornelis nickte. &quo;Meine Mutter …“
&quo;Deine Mutter …?“, entfuhr es Aurelius. &quo;Die Ältere ist deine Mutter? Was soll das heißen? Ich dachte immer, deine Mutter sei bei deiner Geburt in Bandahui gestorben?“
Cornelis schüttelte den Kopf. &quo;Bernadette … sie ist meine echte Mutter.“ Dann befiel ihn eine tiefe, bleierne Müdigkeit und er stürzte erneut in Dunkelheit.